5 Minuten Wien: Mein unglücklicher Freund
WIEN. "Frag mich nicht", grüßt mich Veli, als wir uns im Kur-Café treffen. Schon länger haben wir uns nicht gesehen. So ist unsere Freundschaft eben: Teilweise treffen wir uns ein paar Monate nicht, dann wieder öfter. Aber auf eines kann man sich verlassen: Wenn wir einander brauchen, dann haben wir füreinander Zeit.
"Ich will nicht erklären, ob ich für oder gegen Erdoğan bin – und warum das so ist", schiebt Veli nach, noch bevor ich nachfragen kann.
"Ich weiß ja, wie du zu deiner zweiten Heimat stehst, aber was ist los?" Veli wirkt verzweifelt: "Ja, ich fühle mich als Türke, obwohl ich hier geboren bin und Österreicher bin. Aber ich verstehe nicht, warum ich mich jetzt entscheiden soll und mich vor anderen erklären muss. Auch Menschen anderer Kulturen gießen ihre eigenen Wurzeln. Das findet keiner komisch, warum ist das bei mir, bei den Türken, anders?"
Er habe es auch satt, seit einem Jahr erklären zu müssen, ob er sich an den Ramadan halte. "Ich frage dich ja auch nicht, ob du brav die Fastentage einhältst", redet sich Veli in Rage. "Und es interessiert mich auch nicht, ob die Katholiken ihre ,Ave Maria' beten. Warum will jemand wissen, ob ich fünfmal am Tag bete?"
Ein wenig kann ich ihn verstehen: Während er doch immer als Österreicher galt, wird er heute als Ausländer behandelt, der im Nobellokal seinen reservierten Tisch auf einmal nur für eine Stunde nutzen darf. Dass er, seine Geschwister und seine Eltern in Wien geboren wurden, das scheint heute nicht mehr zu zählen.
Und ein bisschen fühle ich mich auch schuldig: Ich wollte ihn fragen, wie er zu Erdoğan steht.
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