Enteignung im Namen des Hochwasserschutzes - Bürgermeister und Betroffene beim „Hochwassergipfel“ im Stoffelhäusl St. Gertraudi

Dr. Bernhard Umfahrer, Dr. Johannes Ausserladscheiter und Martin Reiter mit alten Fotografien und Stichen von historischen Hochwasserereignissen in Tirol beim Dialog im Stoffelhäusl.
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  • Dr. Bernhard Umfahrer, Dr. Johannes Ausserladscheiter und Martin Reiter mit alten Fotografien und Stichen von historischen Hochwasserereignissen in Tirol beim Dialog im Stoffelhäusl.
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(2015-02-20) – Dass im Rahmen der Schaffung von Retentionsflächen und der damit verbundenen Enteigungen in Österreich das Vorkommen der Braunbauchmaus einen höheren Stellenwert hat, als Wirtschaftsbetriebe mit hunderten Arbeitsplätzen oder beste Agrarflächen für den Anbau von Nahrungs- bzw. Futtermitteln, darüber mussten bei allem Ernst der Lage, sogar die Bürgermeister von Radfeld, Reith und Strass sowie zahlreiche betroffene Unternehmer und Privathausbesitzer schmunzeln.

Der Anlass war weniger lustig, ging es doch am Freitagabend im Stoffelhäusl in St. Gertraudi um die Frage der Einräumung von Zwangsrechten bzw. Enteignungen im Rahmen der Festlegung neuer Gefahrenzonen beim Hochwasserrisiko im Inntal. Der Ort war nicht ohne Hintergrund ausgesucht worden. Das 530 Jahre alte Stoffelhäusl hätte nach den jetzigen Berechnungen des Landes nämlich seit seinem Bestehen bereits fünfmal weggeschwemmt werden müssen und soll in Zukunft bei einem hundertjährigen Hochwasser zwei Meter hoch geflutet werden!

Martin Reiter hatte den Wiener Wirtschaftsanwalt Dr. Bernhard Umfahrer sowie den in solchen Angelegenheiten versierten gerichtlich beeideten Sachverständigen und EU-Konsulenten Dr. Johannes Ausserladscheiter zum „Dialog im Stoffelhäusl“ geladen.
Klar zutage kam unter anderem, dass die oft gebrauchte Floskel „das stammt alles von der EU“ bei näherer Betrachtung nur teilrichtig ist. Denn die sogenannte EU-Hochwasserrichtlinie sieht viel weniger vor als hierzulande daraus gemacht wurde bzw. wird. Martin Reiter: „Österreich spielt wieder einmal den Musterknaben, verschärfte die Gangart, beschleunigt das Tempo und schiebt dafür dann den schwarzen Peter der EU zu.“

Vergleicht man die Gesetzeswerke seitens EU und Bund, dann stimmt das tatsächlich.
Auch in Tirol sei dies der Fall und die Diskussionsteilnehmer wünschten sich größtenteils ein „Herausnehmen des Tempos“ beim derzeitigen Verfahren, das unzählige neue gelbe und rote Zonen verordnet und somit Bauten sowie Betriebsentwicklungen in Zukunft verhindert. Vor allem für die betroffenen Gemeinden und Bürgermeister eine Katastrophe. So meinte ein Diskussionsteilnehmer: Von den knapp 700.000 Einwohnern Tirols leben 80 Prozent auf nur vier Prozent der Landesfläche und diese befinde sich noch dazu zum Großteil im Inntal zwischen Kufstein und Imst.

Es fehle in Tirol auch die Einbindung der seit 2014 geltenden Verordnungen und die Neuberechnung unter Anwendung eines 3-Säulen-Modells, wie es der Bund nun vorsieht, verwies Mag. Josef Erler, Geschäftsführer der Firma Bonnevit.
Dr. Johannes Ausserladscheiter: „Zur Festlegung der Gefahrenzonen sind daher nicht nur Pegelstände sondern sämtliche nützlichen Informationen zu berücksichtigen, insbesonders auch Wissen von besorgten Bürgern und Grundeigentümern.“ Außerdem sei die Mitarbeit der Öffentlichkeit in der EU-Hochwasserrichtlinie ausdrücklich vorgesehen und werde auch im entsprechenden Bundesgesetz dezidiert angeführt, so der Sachverständige.
Dass die Information der Öffentlichkeit bisher seitens der Behörden sehr dürftig war, konnten alle Anwesenden bestätigen.
Ausserladscheiter weiter: „Die Höhe der Entschädigung von ausgewiesenen Retentionsflächen ist möglichst im Vorfeld auszuhandeln und ordnungsgemäß zu bewerten.“
Dabei verwies Wirtschaftsanwalt Dr. Bernhard Umfahrer darauf, dass entsprechende Liegenschaften nicht gänzlich enteignet sondern mit Zwangsrechten belegt werden. Diese Zwangsrechte zu bewerten, sei enorm schwierig.
Als Kuriosum am Rande befanden die Diskussionsteilnehmer, dass die derzeitige Bewertung angelehnt an das Eisenbahnenteignungsgesetz erfolge.
Nun wollen sich die Bürgermeister und Betroffenen in größeren Gruppen formieren und mit Hilfe von Sachverständigen und Anwälten Alternativen erarbeiten, konstruktive Gespräche mit der Beamtenschaft führen und somit für Gemeinden, Betriebe und private Betroffene „Schadensbegrenzung“ erreichen. Vor allem aber steht die Herausnahme roter Zonen bzw. die Möglichkeit dort zu Bauen im Fokus der Bürgermeister. Bgm. Klaus Knapp aus Strass: „Seitens der Behörde wird eine Baugenehmigung in der roten Zone auch dann abgelehnt, wenn der Bauwerber die gesamte Haftung und das Risiko übernehmen würde.“
Zum Abschluss präsentierte Martin Reiter Rückblicke aus Hochwasserereignissen der letzten tausend Jahre in Tirol und resümierte, dass es relativ wenige wirklich große Katastrophen gegeben habe und dies erfreulicherweise auch mit einer relativ geringen Zahl von Todesopfern. Eine solche historische Betrachtung sei deshalb für ihn von besonderer Bedeutung. Nur die Pegelstände anzusehen sei zu wenig, meinte Reiter zum Abschluss.

Wo: St. Gertraudi, St. Gertraudi 24, 6235 Reith im Alpbachtal auf Karte anzeigen
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