Christoph Reicho: "Wir tauschen Beziehungen aus wie kaputte Fernseher"

"Wir sind damit groß geworden, dass Dinge, die nicht mehr funktionieren, nicht repariert, sondern ersetzt werden", sagt der österreichische Autor Christoph Reicho im Interview. | Foto: Nuhn
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Sie setzen sich in Ihrem Buch mit der "Generation Y" auseinander. Warum?
CHRISTOPH REICHO: Weil ich selbst Teil davon bin und ich schon seit der Schulzeit die Verhaltensweisen und die Perspektivenlosigkeit sowie die damit zusammenhängenden Zukunftsängste meiner Generation kritisch beobachte.

Wie würden Sie diese Generation beschreiben?
Ich nenne sie "die ewig suchende und nie findende Generation":
Zum einen leben wir in einer Welt tausender Vorbilder – Figuren in Filmen, Computerspielen, Musikgruppen oder andere Personen aus den Medien – die es uns erschweren, uns auf uns selbst zu konzentrieren und eine eigene Identität zu finden. Die hohe Anzahl an Identitäten macht es oft unmöglich, uns für etwas zu entscheiden. Die Zeit uns selbst kennenzulernen, nehmen wir uns nur selten.
Zum anderen sind wir Prototypen der Wegwerfgesellschaft. Wir sind damit groß geworden, dass Dinge, die nicht mehr funktionieren, nicht repariert, sondern ersetzt werden. Dieses Verhalten hat sich längst von alltäglichen Produkten in all unsere Lebensbereiche gezogen: Wir tauschen nicht nur den Fernseher aus, sobald das Bild wackelt, sondern auch unsere Liebesbeziehungen, Freundschaften oder Arbeit.

Alle Hauptfiguren dokumentieren ihr eigenes Leben. Warum besteht dieses Bedürfnis nach Selbstdarstellung in dieser Generation?
Wir sind definitiv eine Selbstdarsteller-Generation. Einen großen Einfluss darauf nehmen die sozialen Medien. Durch die Möglichkeit ein eigenes Profil zu erstellen, auf dem persönliche Informationen und private Fotos gepostet werden, bedienen wir die Neugierde der Öffentlichkeit. Wir ermöglichen es Menschen heute, jederzeit in unser Leben zu blicken – und das freiwillig. In meinen Augen sind wir selbsternannte Stars und zugleich unsere eigenen Paparazzi.

Wie entwerfen Sie Ihre Figuren?
Ehrlich gesagt, entwerfen sie sich von selbst. Ich habe sehr wohl ein grobes Konzept im Kopf, aber die Figuren entwickeln beim Schreiben ihr Eigenleben.

Christoph Reicho ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Sänger und Songwriter. Hier sehen Sie das Video zu seinem Song "Seelenverwandt".

Was inspiriert Ihre Bücher?
Ich beobachte mich und andere Menschen sehr genau und diese Beobachtungen werden anschließend zu Geschichten gesponnen. Einen weiteren großen Einfluss auf mein Schreiben hat die Weltpolitik und die damit verbundenen Lebensumstände. Ich sehe es als meine künstlerische Aufgabe an, auch ein scharfzüngiger Kritiker zu sein, der auf Missstände hinweist und vor allem zum Nachdenken anregt.

Wann und wo schreiben Sie am liebsten?
Wann und wo ist für mich nicht wichtig. Die Geschichte muss aus einem herauskommen wollen. Wenn ich diesen Drang verspüre, greife ich automatisch zum Stift oder zur Tastatur – egal, wo ich gerade bin. Nur unter Zeitdruck schreibe ich nicht gerne. Zeitdruck führt zu Fehlern und nimmt einem viel Inspiration.

Hatten Sie schon einmal eine Schreibblockade?
Ein gefürchtetes Wort in der Autorenwelt. Ich glaube, dass die Schreibblockade in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Anspruch an sich selbst steht. Wenn der Anspruch zu hoch ist, verliert man die Energie und auch die Zwanglosigkeit, die Worte fließen zu lassen. Ich mache mir selten Pläne oder Konzepte für Texte, das würde mich einengen. Das Ergebnis ist aber durchaus unterschiedlich: Manchmal ist es reif für den Papierkorb, manchmal bereit für eine Veröffentlichung.

Autor Christoph Reicho
Christoph Reicho: "Wenn Entscheidungen ausschließlich aus finanziellen Interessen getroffen werden, bleibt am Ende immer der Mensch auf der Strecke." (Foto: Nuhn)

Wer sollte "Schlaraffenland" lesen?
Ich glaube, dass die Geschichte über die ewig suchenden und nie findenden Menschen alle Generationen berühren wird. Allen voran die jungen Menschen, die sich selbst darin wiederfinden werden, dann die Eltern, die das Leben und die Probleme ihrer Kinder näher geführt bekommen und schließlich die Großeltern, die sich nach dem Lesen des Buches Gedanken über ihre Enkelkinder machen. So wie auch mein Großvater, der als einer der ersten das Manuskript las und als liebevoll besorgte Reaktion täglich bei meinen Eltern anrief, nur um zu fragen: "Ist mit dem Jungen alles in Ordnung?"

Geht es uns in der westlichen Gesellschaft insgesamt zu gut?
Ich glaube, dass es noch viel zu vielen Gesellschaften zu schlecht geht. Das ist das Thema. Und die Schieflage wird immer größer. Die Kurzsichtigkeit von uns Menschen ist dabei das Hauptproblem: Wir verdrängen so lange, bis sich uns ein Problem aufdrängt. Das macht eine nachhaltige Zukunft unmöglich. Die Verbrüderung zwischen Wirtschaft und Politik sehe ich dabei als brandgefährlich an. Wenn Entscheidungen ausschließlich aus finanziellen Interessen getroffen werden, bleibt am Ende immer der Mensch auf der Strecke – vor allem der arme Teil der Bevölkerung.

Zur Person: Christoph Reicho

Christoph Reicho ist ein österreichischer Autor, Sänger und Songwriter. Er wurde 1984 in Graz geboren. Seit seinem Journalismus- und Kommunikationsstudium publiziert er als freier Autor und Redakteur in verschiedenen Zeitschriften und betreut laufend internationale Projekte im Bereich Kunst- und Kulturmanagement.

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"Wir sind damit groß geworden, dass Dinge, die nicht mehr funktionieren, nicht repariert, sondern ersetzt werden", sagt der österreichische Autor Christoph Reicho im Interview. | Foto: Nuhn
"Wenn Entscheidungen ausschließlich aus finanziellen Interessen getroffen werden, bleibt am Ende immer der Mensch auf der Strecke – vor allem der arme Teil der Bevölkerung", sagt Autor Christoph Reicho im Interview. | Foto: Nuhn

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