"Was da an Korruption passiert, ist grauenhaft"

StadtRundschau: Herr Ehrenhauser, Sie sind seit 2009 im Europäischen Parlament. Was bedeutet die EU für Sie?
Martin Ehrenhauser: Die EU ist ein großartiges Projekt. Diesen Mut, mit dem die Politiker nach Ende des Zweiten Weltkriegs unter zerstrittenen Nationen eine Gemeinschaft aufgebaut haben, kann man sich heute nur wünschen. Die Idee eines gemeinsamen Europas ist wunderbar, wünschenswert und muss man weiterverfolgen. Nur beim Aufbau der EU wurden und werden fundamentale Fehler begangen.

Sie stehen also hinter dem Projekt EU?

Absolut. Ich bekenne mich mit einem klaren Ja zur gemeinsamen Europäischen Union, aber wenn sich nicht schleunigst was ändert, wird sie zerbrechen.

Etwas, wo ein großer Wunsch nach Änderung besteht, ist der Datenschutz ...
Richtig. Es läuft viel unter dem Deckmantel der Sicherheit, aber die Medaille hat auch eine andere Seite. Wir bewegen uns auf ein Zeitalter der Kontrolle zu. Allerdings wächst nur in der Freiheit der Fortschritt, der nötig ist, um sich weiterzuentwickeln.

Viele Menschen wünschen sich einen besseren Schutz ihrer Daten. Warum gibt es keine entsprechenden Gesetze zum Schutz der Privatsphäre?

Es gibt in Brüssel ein ganzes Viertel an Interessenvertretern, sogenannten Lobbyisten. Das ist legitim und per se auch gar nicht schlecht. Das Problem ist die Korruption. Was hier passiert, ist grauenhaft.

Ist der Einfluss der Interessenvertreter zu groß?
Jeder Mensch und jede Organisation hat ihre Interessen. Diese zu vertreten ist legitim. Die Schuld liegt bei der Politik. Die Politiker treffen zu selten am Gemeinwohl orientierte Entscheidungen und lassen sich zu oft von kapitalintensiven Interessenvertretern verführen.

Ist es die Gier der Politiker, wie im Fall Strasser, oder der Druck, der auf ihnen lastet, der Politiker davon abhält, wirklich freie Entscheidungen zu treffen?

Es ist die Mischung aus beidem. Da gibt es Abgeordnete, die für Nebenjobs ein paar Tausend Euro von Großkonzernen bekommen. Wer seinen Job ernst nimmt, der kann keinen Nebenjob haben, weil die Zeit gar nicht bleibt.

Wenn wir davon ausgehen, dass der Politiker seinen Job ernst nimmt: Es ist doch kaum möglich, das gesamte Themenspektrum der Gesellschaft abzudecken?
Aus diesem Grund ist die Politik gezwungen, sich rasch Wissen anzueignen. Es stellt sich die Frage, wo sich Politiker ihr Wissen aneignen. Bei kapitalstarken Verbänden der Großindustrie oder bei kapitalschwachen Umwelt-, Konsumenten- und Arbeitnehmervertretungen?


Und die kapitalstarken Interessen setzen sich durch?

Leider viel zu häufig. Ihr Einfluss ist völlig ungleich größer.

Wie eignen Sie sich Wissen zu Themen an?
Es kommt nicht selten vor, dass ich zu unabhängigen Wissenschaftern gehe. Die sind dann immer ganz verwundert, wenn der Politiker kommt. Aber da liegt so viel unabhängiges Wissen, das nicht genutzt wird.

Sie versuchen in Ihren Publikationen auch die Verschwendung innerhalb der EU aufzuzeigen. Was läuft da schief?
Das Entscheidende ist der Mehrwert für die europäischen Bürger. Es gibt Einsparungspotenzial ohne Ende. Zum Beispiel wurden 2,7 Millionen Euro an Steuergeldern für die Renovierung des häuslichen Fitnessstudios investiert. Das Gefühl, dass es sich um Geld von anderen Menschen handelt, ist völlig abhanden gekommen.

Geld ist ein wesentliches Thema. Staaten verschulden sich zunehmend, der Spielraum der Politik sinkt. Kommunalpolitiker sprechen immer davon, auf so große Dinge wie das Geldsystem keinen Einfluss zu haben. Kann die Politik auf EU-Ebene da etwas bewegen oder liegt die Macht längst in der kapitalstarken Wirtschaft?

Der Druck ist irrsinnig stark, aber der Politiker ist grundsätzlich frei in seinen Entscheidungen. Es kann daher keine Ausreden geben. Bei der Vermögensverteilung hat die Politik völlig versagt. Wir brauchen dringend eine europaweite Vermögenssteuer, um ein gerechtes Gleichgewicht der Gesellschaft zu erwirken.

Kann sich diese Situation im jetzigen Wirtschaftssystem überhaupt verbessern?
Berechtigte Frage. Eine Reform unseres Geldsystems ist notwendig. Denn Zentralbanken bringen im Wesentlichen nur das Bargeld in Umlauf, das, je nach Staat, fünf bis 20 Prozent der Geldmenge ausmacht. Der Rest wird von Banken per Kredit geschöpft. Dies führt zur Übersteigerung von Konjunktur- und Börsenzyklen samt nachfolgenden Krisen sowie zur Ausweitung der Verschuldung. Das Vollgeldkonzept von Josef Huber wäre eine passende Alternative.

Liegt das Problem vielleicht nicht auch am mangelnden Bewusstsein der Bürger?
Nein, die Bürger spüren, dass das System ihren Bedürfnissen nicht mehr gerecht wird. Wir alle arbeiten für Finanzbilanzen und BIP, doch diese Indikatoren sind nicht geeignet, um einen gemeinwohlorientierten Erfolg und ein sinnorientiertes Leben zu messen. Die Politik ist gefordert, neue Kennzahlen zu definieren, die ein gerechtes und umweltfreundliches Wirtschaften abbilden.

Was passiert, wenn sich nichts ändert?
Aber Fakt ist: Das System wird den Bedürfnissen der Menschen nicht mehr gerecht. Wenn es keine Reformen gibt, dann wird es zur Gewalt kommen. Und die Leute werden jene, die jetzt an der Macht sind, vertreiben.

Was können Sie als Linzer Politiker im EU-Parlament dafür bewirken?
Ich kann da schon was bewegen, das darf man nicht unterschätzen. Es gibt viele Entscheidungen, die auf des Messers Schneide stehen, da hat meine Stimme auch schon den entscheidenden Unterschied ausgemacht.

Noch zu Ihnen persönlich, Sie sind durch Liste von Hans-Peter Martin in die EU gekommen, nun sind Sie fraktionsfreies Mitglied. Was ist da vorgefallen?

Mir wurden Unterlagen zugespielt, die den Verdacht erhärten, dass Hans-Peter Martin 1,5 Millionen Euro Steuergeld für private Zwecke missbraucht hat. Nachdem er die Anschuldigungen nicht entkräften konnte, hatte ich zwei Möglichkeiten: Schweigen oder die Unterlagen an die Staatsanwaltschaft übergeben. Letzteres war für mich moralisch der einzig richtige Weg.

Wo fühlen Sie sich politisch zu Hause?

Also, rechts auf keinen Fall. Ich komme aus einer Linzer Arbeiterfamilie. Über eine Parteizugehörigkeit mache ich mir aber keine Gedanken.

Wollten Sie eigentlich schon immer ins EU-Parlament?

Nein, überhaupt nicht. Ich bin eigentlich mehr dazu überredet worden.

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