Alltagsklassiker: Kleine Stilkunde

Heckflossen, Zweifarblackierung, viel Chrom und breite Panoramascheiben. Der Simca Vedette Beaulieu hat amerikanischen Stil auf europäisches Maß gebracht.
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  • Heckflossen, Zweifarblackierung, viel Chrom und breite Panoramascheiben. Der Simca Vedette Beaulieu hat amerikanischen Stil auf europäisches Maß gebracht.
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Ein weiteres „Friday Night Cruisng“ in der Grazer Triesterstraße. Sie sind gut vernetzt, sorgen für Kontinuität in den Zusammenkünften, schaffen dabei einen beweglichen Rahmen für Geselligkeit und Fachgespräche.


Die Formation heißt „Alltagsklassiker“ und befaßt sich genau damit. Sie ahnen nun, es geht um alte Fahrzeuge.

Es sind Emotionen, aber auch praktische Gründe, die so eine Zusammenschließung nahelegen. Niemand ist alleine schlau, der Austausch wichtig. Überdies, wo betagte Fahrzeuge nicht gefahren werden, also zum „Stehzeug“ mutieren, stellen sich in kürzester Zeit Standschäden ein, die beginnen, einen Klassiker zu ruinieren.

Da muß man reagieren können. Es ist nicht ganz so teuer, aber so dringend wie bei jeder Stradivari. Wird sie nicht gespielt, stirbt sie. Das reicht freilich noch nicht, um merkwürdige Reaktionen auszuschließen, wenn ich die „Alltagsklassiker“ eine Kulturinitiative nennen möchte.

Das Problem in Kurzfassung: Ein Kleinbürgertum, das sich kulturell am Bürgertum mißt, welches einst den Lebensstil des Adels kopiert hat, schottet sich gegen Erinnerungen an die eigene Herkunft ab und pflegt eine Geringschätzung gegenüber körperlicher Arbeit.

Was soll also ein handwerklich versierter Mensch in Kulturfragen gelten, wenn er sich so trivialen Dingen wie einem Auto widmet? Und dann: Cruising. Was soll das sein? „Cruising“ ist ein Promenieren aus purem Vergnügen an der Ausfahrt.

Originalton „Alltagsklassiker“: „Willkommen sind alle Fahrzeuge die über 20 Jahre alt sind, egal ob Old- oder Youngtimer, US Car, europäisches Fahrzeug, Nipponklassiker, im Topzustand, Ratte, zeitgenössisch getuned oder mit kleinem Budget am Leben erhalten.“

Da fehlt doch jeder Purismus und bei diesem Durcheinander der Kriterien kann von höheren Weihen wohl keine Rede sein. Meinen Sie? Lustig! Dann will ich versuchen, Ihnen über diese Kulturinitiative ein wenig die Augen zu öffnen.

Die bunte Mischung entspricht dem kulturellen Konzept der „Wunderkammer“, wie es beim Adel gerade noch vorherrschend war, bis kürzlich Museen entstanden, in denen streng kategorisiert und geordnet, beschriftet und nach solcher Ordnung ausgestellt wurde. Das „Prinzip Wunderkammer“ ist altes europäisches Kulturgut und paßt natürlich auch für dieses junge Genre.

Der eingeführte Treffpunkt Triesterstraße hat zwei fixe Instanzen, einen Schnellimbiß am Straßenrand und eine Autowaschstraße.

Dahinter liegt einer Transversale zum nächsten Autobahnknoten und eine Eisenbahnstrecke. Es ist also ein symbolisch hoch aufgeladener Ort der Mobilitätsgeschichte.

Was aber ist die Triesterstraße? Sie ist der Rest jener Post- und Kommerzstraße, die Kaiser Karl VI., Vater von Maria Theresia, anlegen ließ. Damit verband er in Zeiten, da das Reisen noch sehr mühsam war, Wien, das Zentrum des Imperiums, mit dem Hafen in Triest.

Die Triesterstraße, deren nördlicherer Teil treffend Alte Poststraße heißt, erinnert an eine Ära, da Massengüter nicht über Land, sondern nur auf Wasserwegen transportiert werden konnten. Dem gegenüber waren dann solche “Kaiserstraßen“ eine große Innovation.

Die Eisenbahn war der nächste Neuerungsschritt, die Autobahn schließlich die jüngste Errungenschaft im Transportwesen. All das kreuzt und berührt so die Position des „Friday Night Cruisng“ der Kulturinitiative „Alltagsklassiker“. Falls Sie dachten, das war es jetzt mit dem Geschichtsunterricht, falsch gedacht!

Als ich diesen Freitag ankam, sah ich auf Anhieb einige interessante Fahrzeuge, saß dann mit einem Kübel Kaffee bei einigen Männern unterm Sonnenschirm, um schließlich aufzuspringen, weil eine besondere Rarität auf den Platz rollte. Eine ganz unscheinbarer Steyr-Fiat 600, in Kleinbürgerfarbe lackiert, historisch gesehen ein Meilenstein der europäischen Massenmotorisierung.

Ein Angelpunkt der Stilkunde. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die selbsttragende Karosserie durch, der tragende Leiterrahmen rutschte weitgehend in den Nutzfahrzeugbereich. Mit dem Fiat 600 kam eines der überhaupt ersten vollwertigen Autos auf den Markt, das sich die Arbeiter, die es bauten, auch hätten kaufen können.

Zwischen der Mitte der 1950er- und 1970er Jahre kann man bei den PKW drei Grundformen feststellen. Die Eiform (Ovoid) des 600ers wie auch des Puch-Schammerls, die Box und der Keil entsprechen drei Grundelementen der Geometrie: Kreis, Viereck und Dreieck.

Zur genannten Ära gehören noch zwei Sonderformen dieser die Grundmuster. Damit hätten wir ein umfassendes Bild. Der Ponton (Stufenheck-Limousine) und der Torpedo (Sportwagen, Roadster).

Zusammengefaßt: Ovoid, Box und Keil, begleitet von Ponton und Torpedo, machen im Bereich der massentauglichen Fahrzeugflotten die maßgebliche Stilgeschichte der Autos in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus.

Was danach weltweit an rundgelutschten Allerwelts-Designs stattfand und nur selten von interessanten Designs unterbrochen wurde, ist der etwas traurige Hintergrund dessen, was heute die „Alltagsklassiker“ ästhetisch ausmacht. Und nun die Probe aufs Exempel.

Mit dem schon erwähnen Steyr-Fiat hatten wir freitags den bedeutendsten Ovoid der Nachkriegszeit auf dem Set. Dazu gesellte sich später ein muskulöser Mini, die legendäre Box, mit der Issigonis eine neue konstruktive Ära eingeleitet hatte.

Dazu der erfolgreichste Keil von Giugiaro, ein VW Golf, erstes Baumuster, in der GTI-Ausführung. Als exemplarischen Ponton, die Stufenheck-Fassung der Box, bekam ich einen wunderbaren 1957er Ford Anglia vor die Kamera, also ein Fahrzeug jener Ära, da der Ponton große Karriere machte.

Als Beispiel für den Torpedo hab ich einen jungen Klassiker zu nennen, der zu einem weltweiten Riesenerfolg wurde und formal den famosen Lotus Elan zitiert, den Mazda MX 5.

Mit einem opulenten, fast schon barocken Simca Vedette Beaulieu und einem eleganten Opel C-Rekord in Coupe-Fassung waren außerdem zwei verschiedene Epochen amerikanischer Stile abgebildet, denn europäische Auto-Fans sind stets auch sehr anfällig für ästhetische Einflüsse aus Übersee. (Der Simca steht für den klassischen Straßenkreuzer, das C-Coupé für die Muscle Car-Ära.)

So konnte ich vielleicht deutlich machen, wie ein einziges Meeting dieser Kulturinitative uns einen Museumsbesuch ersparen kann, um die radikale zweite Hälfte des 20. Jahrhundert mit ihrer umfassenden Volksmotorisierung Europas technisch und ästhetisch darzustellen.

+) Foto-Report von Robert Kreuzer: [link]
+) Designgeschichte: "Die Straße des 20. Jahrhunderts" [link]
+) Krusche: Mobilitäts-Reportagen [link]

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