Fortsetzung: Vertrieben (43)

Foto: Bayrischer Rundfunk

Die wahre Geschichte eines kleinen Mädchens

Autorin: U. Hillesheim ©

Mit seinen sechs Jahren müsste Viktor eingeschult werden. Aber die deutschen Kinder dürfen ja nicht zur Schule. Da haben Herr Pfarrer und Muttl beschlossen, ihn privat Lesen und Schreiben zu lehren. Herr Pfarrer malt große Druckbuchstaben auf rechteckige Papierstücke. Viktor lernt die Buchstaben schnell. Nun soll er sie zu Worten zusammenziehen. Herr Pfarrer setzt das Wort „Killian“ zusammen. Viktor buchstabiert richtig, doch das Wort als Ganzes erfasst er noch nicht. „Schneller lesen, Viktor, schneller, noch schneller“! Viktor bemüht sich, buchstabiert immer schneller und schneller und auf einmal erkennt er, dass das Wort unseren Familiennamen bedeutet. Den Schritt vom Buchstabieren zum richtigen Lesen hat er in der Pfarreiküche in Mohrau getan.

Der Pfarrhof gehört zu den großen Bauernhöfen von Mohrau. Mit seiner Doppelhufe an Grund und Boden ist er etwa doppelt so groß wie die Mehrzahl der übrigen Höfe. Der landwirtschaftliche Schwerpunkt zur Zeit von Pfarrer Dietz liegt bei der Viehwirtschaft. Die meisten Felder sind aber verpachtet. In den Ställen stehen aber mindestens zwei Pferde und eine ganze Anzahl von Kühen. Auch Schweine, Gänse, Hühner und Kaninchen werden gehalten. Wirtschafter ist der Schwarz Joseph.

Die Ruine vom Schwarz-Haus, der „Schandfleck“ des Dorfes, steht neben dem Pfarrhof. Die Vorderwand ist hernieder gebrochen und man sieht in die Zimmer. Das ist ja so interessant für Adelheid und mich. Da sieht man noch Möbel und sicher gibt es darin brauchbare Dinge für uns. Doch leider wird uns streng untersagt, das einsturzgefährdete Haus zu betreten. Aber die Verlockung ist groß und Adelheid und ich haben es trotzdem getan. Und wirklich, wir finden etwas sehr Brauchbares: ein Taschenmesser. Seine Klinge ist zwar völlig verrostet, aber wir wissen: Man muss sie nur oft genug in den Boden stoßen, dann geht der Rost ab und die Klinge wird wieder blank.

Von der bäuerlichen Arbeit bekommen wir in jenem Herbst und Winter nicht allzu viel mit. Fräulein Anita und Tante Rosi haben täglich das Vieh gemolken und gefüttert. Lisa, die Kuh, die Fräulein Anita halbverhungert den Russen „entrissen“ hat, gibt besonders viel Milch und wird oft gelobt. Das Wasser zum Tränken wird mit einer in der Großen Küche installierten Handpumpe direkt in die Tröge gepumpt. Jeden Morgen wandern die Gänse zum Dorfbach und treffen sich dort mit anderen Gänsescharen. Abends muss Fräulein Anita nur rufen, dann folgen ihr willig die Tiere nach Hause und in den Stall.

Adelheid und ich schauen gerne bei den Arbeiten der Erwachsenen zu. Es gibt hier so vieles, was wir in Bennisch nie zu sehen bekommen haben. So buttern immer wieder die beiden Frauen für den Eigengebrauch. Heimlich, denn die Tschechen haben privates Buttern verboten. Damit es nicht auffällt oder gehört wird, benutzen sie keine Zentrifuge, sondern schütteln und stoßen die milchgefüllte, mit einem Tuch abgedichtete Kanne so lange, bis sich schöne Butterklumpen gebildet haben. Regelmäßig stellt Fräulein Anita Quargel her. Die von Hand geformten Käselaibchen werden zuerst auf dem Ofenturm getrocknet, bevor sie in die Gärgefäße geschichtet werden. Sind sie reif, dann kosten wir immer alle. Meist ist der Quargel ausgezeichnet gelungen und schmeckt wunderbar. Fräulein Anita wird wegen ihrer guten Quargel bewundert.

Zu Winterende sind Saatkartoffel zerschnitten worden. Ich lerne dabei, dass ein Erdapfelstück ein oder zwei Augen aufweisen muss. Nur diese wachsen aus und bilden die neue Pflanze, nachdem die Stücke ins Erdreich gelegt worden sind. Einmal wird aus Zuckerrübenschnitzeln Sirup gekocht (als Brotaufstrich und zum Süßen). Das macht viel Arbeit und man sorgt sich, ob der Sirup gelingt. Ein anstrengender und aufregender Tag geht zu Ende, als alle schließlich stolz den gut gelungenen Sirup probieren.

Immer am Samstag werden die Holzdielen der Küche mit der Wurzelbürste geschrubbt. Das ist anstrengend und zeitraubend, denn die Küche ist groß. Aber die unbehandelten Bretter werden vom Bürsten schön hell und jedes Mal freut sich Fräulein Anita mit uns über den wie neu gewordenen Fußboden.

Schließlich wird im Winter ein Schwein geschlachtet. Da haben die tschechischen Gendarmen mitgehalten und sich, auch mit guten Ratschlägen, lebhaft beteiligt. Wahrscheinlich haben sie den größten Anteil erhalten. (Sie haben wahrscheinlich auch die Genehmigung zum Schlachten erteilt.) Einmal lachen sie Fräulein Anita lauthals aus, weil nach deren Meinung zu einer bestimmten Wurstsorte Zwiebeln gehören. Sie kennen es anders. Mir tut das arme Schwein leid und ich halte mir die Ohren zu, als es frühmorgens laut quickt. Später bewundere ich den Wurstmacher, der mit geradezu maschinenhafter Geschwindigkeit von Hand die gereinigten Därme mit Wurstmasse füllt. Dann gibt es Stichfleisch, Wurstsuppe und wasserklare Sulz. Alles schmeckt herrlich und ich denke kaum noch an das arme geschlachtete Schwein.

Fortsetzung folgt

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