Fortsetzung: Vertrieben (46)

Foto: Bayrischer Rundfunk

Die wahre Geschichte eines kleinen Mädchens

Autorin: U. Hillesheim ©

Es kommt der Heilige Abend 1945. Der soll ganz anders verlaufen als alle unseren Weihnachten bisher. Die Familie ist unvollständig. Papa fehlt. Lebt er noch? Monate haben wir nichts mehr von ihm gehört. Seine letzte Feldpost hat uns kurz vor dem Zusammenbruch erreicht. Dann nichts mehr. Ist er gefallen? Ist er in Gefangenschaft geraten? Eine schreckliche Sorge! Auch Roswitha und Gottfried sind nicht bei uns, doch wir wissen inzwischen, wo sie sich aufhalten. Wie mag es ihnen ergehen? Würden sie wieder zu uns zurück kommen und wann? Wenigstens kann Muttl Winterkleidung an Roswitha in Domazelice schicken.

Wir drei sehen beim Backen in der Pfarrküche interessiert zu. Besonders gefällt uns, dass Tante Rosi und Fräulein Anita einige Striezel in dreifacher Lage formen: Drei geflochtene Zöpfe werden aufeinander gesetzt, der unterste fünffach, der mittlere dreifach, der obere zweifach geschlungen. Am Heiligen Abend wird bis zum Abend streng gefastet (bis man den ersten Stern sieht). Fleisch ist nach den Fastengesetzen auch am Abend verboten. Zu Mittag gibt es ein Stückchen vom Weihnachtsstriezel, der an den Vortagen gebacken worden ist. Alle finden ihn köstlich.

Am Abend aber, da gibt es Wunderbares reichlich zu essen. „Mohnklierslen“ (Mohnsemmeln) hat Fräulein Anita gemacht (Ich habe genau aufgepasst und mir das Rezept eingeprägt). Danach bringt Fräulein Anita den Baum in die Küche und schmückt ihn. Bisher sind wir niemals beim Baumschmücken dabei gewesen. Unter dem Baum steht die Krippe. Auf die Baumspitze steckt Fräulein Anita ein Kreuz, keinen Stern wie in Bennisch bei uns. „Kreuz und Krippe gehören zusammen“, sagt sie.

Was gibt es an Geschenken für uns? Einiges weiß ich noch: Adelheid und ich erhalten drei neue Kleider, die die Bernt Hermi in den vergangenen Wochen für uns genäht hat. Wegen der Anproben kennen wir sie schon. Sie sind noch zu groß, aber sie sind ja auch für die Zukunft gedacht. Doch da gibt es noch etwas ganz Unerwartetes, etwas ganz Schönes. Das allerschönste Geschenk ist ein Pelzkragen, ein schmeicheliger Kragen aus weichem Kaninchenfell. Zum Umbinden über den Mantel. Kann hat ihn für uns beim Kürschner anfertigen lassen. Ach, der ist so weich, so kuschelig warm und sieht dazu noch wunderhübsch aus. Wir sind überglücklich.

Was Viktor bekommt, weiß ich nicht mehr. Wohl aber, was Adelheid und ich den Erwachsenen geschenkt haben. Die Anregung hierzu scheint Fräulein Anita gegeben zu haben. Unter ihrer Anleitung haben wir mit „Randstich“ je zwei bunte Ansichtskarten zusammengestickt. Sechs dieser beidseitig farbigen Platten haben wir dann zu einem Kastl mit Deckel zusammengenäht. Das sieht hübsch aus und kommt bei den Beschenkten gut an.

Es herrscht ein strenger und schneereicher Winter damals 1945/46. Doch in jener Zeit ist er nicht ungewöhnlich für unsere Gegend. Bernts Haus im oberen Dorf liegt zugeschneit, fast bis zur Dachtraufe vergraben im Schnee und zur Haustüre geht man durch einen tiefen Schneegraben. Es kommt zu erheblichen Schneeverwehungen, sodass auf den Straßen manchmal die Pferdeschlitten stecken bleiben. Als bekannt wird, dass ein Tscheche mit seinem geraubten Fuhrwerk stecken geblieben ist, freuen sich Adelheid und ich insgeheim schadenfroh.

Den Weg zur Kirche hinauf sollen wir nicht mit unserem Schlitten befahren, denn obwohl dort mit Asche gestreut wird, könnte es für die Kirchgänger gefährlich glatt werden. Adelheid und ich sind trotzdem einmal ein kleines Strecke gefahren. „Es ist doch lächerlich“, meinen wir, „wegen vier oder fünf Meter den Schlitten zu ziehen“. Prompt erwischt uns Herr Pfarrer und es gibt wieder großen Ärger für uns.

Immer mehr Tschechen kommen ins Dorf und besetzen die Höfe. Sofort muss der Bauer mit seiner Familie das Haus verlassen. Wenn er Glück hat, zieht er ins Ausgedinge und arbeitet als rechtloser Knecht auf dem eigenen Hof. Nach dem Sonntagsgottesdienst kommen nun regelmäßig Leute in die Pfarrei und schütten bei Herrn Pfarrer ihr Herz aus. Sie weinen und klagen. Und Herr Pfarrer berät sie und versucht sie zu trösten und kann letztlich doch nichts ändern. Immer lauter geht jetzt das Gerücht um und wird schließlich Gewissheit. Fassungslos nehmen die Leute es auf. Das ist doch nicht möglich, das kann doch nicht wahr sein: Alle Deutschen müssen die Heimat verlassen. Alle sollen nach Deutschland gebracht werden.

Fortsetzung folgt

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