Sozialexperte Martin Schenk: "Immer mehr Menschen in Wien sind versteckt wohnungslos"
Eine neue Studie zeigt auf, dass es vor allem in den Städten immer schwieriger wird, leistbaren Wohnraum zu finden.
WIEN. Die Studie, die von Armutskonferenz und Wirtschaftsuni Wien durchgeführt wurde, beschäftigt sich mit der Arbeit von NGOs in der Armutsbekämpfung. Befragt wurden dafür eine Reihe von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern. Was sich dabei herauskristallisierte: Wohnen ist das Thema, das allen untere den Nägeln brennt. In den vergangenen Jahren habe sich die Situation vor allem in den großen Städten durch steigende Mieten immer mehr verschlechtert. Die Folge: Immer mehr Menschen, die zu hohe Mieten zahlen müssen und mit ihrem Einkommen nicht zurande kommen, mehr Menschen, die bei verschiedenen Freunden auf der Couch schlafen und Paare, die sich eine Trennung einfach nicht leisten können.
Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie und Mitbegründer der Armutskonferenz, berichtet über die Situation in Wien:
Wohnungssuche in Wien - ein immer schwierigeres Thema?
MARTIN SCHENK: Auf jeden Fall. Die Stadt wächst, aber das Angebot insbesondere an leistbaren Wohnungen wächst mit dem Bedarf einfach nicht mit.
Was heißt das? Gibt es zu wenig Wohnraum in Wien?
Nein, eigentlich nicht - beziehungsweise kann man das nicht genau sagen, denn wie viele Wohnungen leer stehen, wird leider nicht erhoben. Aber auf dem privaten Sektor sind die Mieten in den letzten Jahren um einiges mehr angezogen als die Einkommen. Eine private Mietwohnung können sich viele Menschen einfach nicht mehr leisten. Und sozialen Wohnraum gibt es definitiv zu wenig.
Was heißt das für jene, die sich Wohnen nicht mehr leisten können?
Das heißt, dass es einen Anstieg verschiedener Phänomene gibt: Auf der einen Seite immer mehr Menschen, die "versteckt wohnungslos" sind, das heißt dass sie von Couch zu Couch wandern und immer bei anderen Freunden und Bekannten übernachten. Das ist natürlich sehr belastend. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr illegale Wohnsituationen - wo eine Wohnung an sehr viele Menschen untervermietet wird und total überbelegt ist. Wo sich Menschen in kleinen, fensterlosen Verschlägen wiederfinden. Das sind übrigens nicht nur, wie man annehmen könnte, Armutsmigrantinnen und -migranten aus Osteuropa. Das sind durchaus auch Menschen, die im Billiglohnsektor arbeiten, etwa in der Reinigung oder Büro-Hilfsjobs.
Weiß man, wie viele solcher illegalen Substandard-Wohnungen es gibt?
Nein, solche Erhebungen sind schwierig. Solange sie nicht erwischt werden, pferchen Vermieter so viele Leute wie möglich in ein Zimmer.
In der Studie auch erwähnt: Paare, die sich schon getrennt haben, aber immer noch zusammen wohnen, weil sie sich das Ausziehen nicht leisten können.
Ja, das ist auch immer häufiger der Fall. Es haben Leute zu uns gesagt: "Wir hassen uns, aber wir sind auch nicht so blöd, dass wir obdachlos werden."
Gibt es in Wien auch mehr Obdachlose als noch vor zehn Jahren?
Das kann man seriös nicht beantworten, weil es keine gesichterten Daten gibt.
In der Studie erwähnt sind junge Erwachsene als von Obdachlosigkeit besonders gefährdete Gruppe. Trifft das in Wien auch zu?
Das ergibt sich aus den Interviews, ja. Junge Leute sind stärker gefährdet, weil sie weniger Einkommen haben und sich die Mietpreise nicht leisten können. Das ist natürlich auch bei Familiengründungen schwierig. Diese jungen Erwachsenen bleiben einerseits länger bei den Eltern zu Hause – wenn es aber dann Konflikte gibt oder die Wohnung zu klein ist, wird ihre Situation schnell prekär.
Wie kann die Situation entschärft werden?
Es braucht auf jeden Fall mehr sozialen Wohnbau, auf der allgemeinen Ebene. Im konkreten Fall: Wenn eine Person oder eine Familie von Obdachlosigkeit bedroht ist, dann ist Delogierungsprävention eine wichtige Sache. Eine solche Stelle unter dem Namen Fachstelle für Wohnungssicherung gibt es auch in Wien. Wer mit der Miete im Rückstand ist oder bereits eine Räumungsklage erhalten hat, wird dort unterstützt. Das ist auch volkswirtschaftlich gesehen eine gute Investition: Diese Verhinderung von Obdachlosigkeit ist siebenmal günstiger als die Kosten, die durch Obdachlosigkeit, Notunterkünfte, Übergangswohnungen etc. entstehen. Diese Hilfe sollte noch ausgebaut werden.
Eine mögliche Idee, die in der Studie angesprochen wurde: Das Recht auf eine Gemeindewohnung mit dem Einkommen verknüpfen. Das heißt: Wer eine gewisse Einkommensgrenze überschreitet, muss ausziehen und macht so Platz für wirklich Bedürftige. Was halten Sie davon?
Das wäre aus Gerechtigkeitsgründen logisch, ist aber eine schwierige Frage. Aus soziologischer Sicht spricht nämlich einiges dafür, dass man den Menschen ihre Wohnungen lässt: Wenn Sozialwohnungen nämlich, wie in London und Paris, ausschließlich dem unteren Einkommenssegment vorbehaltens sind, bilden sich dort Ghettos und soziale Brennpunkte. Eine Durchmischung ist also wichtig und wünschenswert. Ich würde also sagen: Keine Einkommensgrenze, es sollte einfach mehr Gemeindewohnungen geben.
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