Wenn der Arzt nicht mehr klingelt: Starker Rückgang bei Hausbesuchen
In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Besuche durch Allgemeinmediziner um mehr als ein Drittel zurückgegangen. Das ist vor allem in Bezirken wie Währing, wo die Bevölkerung immer älter wird, ein Problem.
WIEN. Die Zahlen sprechen eigentlich schon für sich: Zwischen 2006 und 2016 gab es wienweit bei den Hausvisiten von Ärzten, die mit der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) abgerechnet wurden, einen Rückgang von 40 Prozent. 2006 waren es 337.950, 2016 waren es nur noch 193.152 Besuche. Dieser Abfall ist besonders krass, wenn man bedenkt, dass die Bevölkerung Wiens im gleichen Zeitraum um über acht Prozent angestiegen ist.
Einer, der weiß was die Zahlen in der Praxis bedeuten, ist Thomas Breitegger, Leiter des St.-Carolus-Heims für in der Gentzgasse. Hier wohnen 144 mehr oder weniger mobile Senioren. "Bei uns machen 20 verschiedene Ärzte pro Monat ungefähr 300 Hausbesuche", sagt er. Es sei nicht einfach, für neue Bewohner Ärzte zu finden, die sie als Patienten übernehmen: "Die meisten von ihnen haben bereits zu viele." Im Moment könne man gerade noch die Versorgung aufrecht erhalten. "Ist das einmal nicht mehr so, müssten wir die Bewohner wohl mit einem Fahrtendienst zum Arzt transportieren lassen", sagt Breitegger. Ideal sei das natürlich nicht.
Senioren-WGs auf der Suche nach Betreuung
Evi Pohl-Iser, die die Abteilung Pflege des Hilfswerks leitet, kennt das Problem ebenfalls: "Wir wissen von den Besuchern unseres Tageszentrums in Währing, dass es diese Probleme mit den Hausbesuchen gibt. Da müssen die Angehörigen viel übernehmen." Das Hilfswerk selbst sucht Ärztinnen und Ärzte, die die Betreuung ihrer Senioren-WGs übernehmen: "Das heißt die Übernahme aller Bewohnerinnen und Bewohner und regelmäßige Besuche. Es macht meiner Meinung nach keinen Sinn, wenn da immer jemand anders kommt und die Krankengeschichten nicht kennt. Da geht es um die Persönlichkeit, um Wechselwirkungen der Medikamente." Noch ist Pohl-Iser jedesmal fündig geworden, aber es werde immer schwerer: "Wenn ein Arzt in Pension geht, ist es nicht einfach, Ersatz zu finden."
Dass viele Ärzte, die es gewohnt sind, Hausbesuche zu machen, in Pension gehen, sagt auch Andreas Höferl, Seniorenbeauftragter in Währing: "Die Hälfte der Währinger Ärzte, ist über 60 Jahre alt. Wenn die einmal in Pension gehen, ist die Versorgung gefährdet." Hausbesuche seien aber gerade für ältere, nicht mehr so mobile Menschen sehr wichtig: "So können sie weiter zu Hause oder im Seniorenheim wohnen und sind trotzdem versorgt", so Höferl.
Plaudern gehört auch dazu
Dass es sich beim Thema Hausbesuche weniger um ein Problem der jüngeren Ärztegeneration und mehr um eines der Entlohnung handelt, glaubt Katharina Dvorak-Huber. Sie ist seit etwa einem halben Jahr Allgemeinmedizinerin in Gersthof und machte viele Hausbesuche, unter anderem auch weil sie die Patientinnen und Patienten ihres Vorgängers übernommen hat, der ebenfalls viel unterwegs war. Sie hält Hausbesuche für sinnvoll, weiß aber auch wie aufwändig sie sein können: "Viele ältere Menschen möchten auch gerne plaudern, wenn ich komme. Da ist es nicht mit einem zehn-, fünfzehnminütigen Besuch getan", so Dvorak-Huber. Aber ohne Hausbesuche, glaubt sie, würde der Andrang in den Spitalsambulanzen noch stärker werden. Die logische Alternative zum Besuch des eigenen Hausarztes ist natürlich der ärztliche Notdienst, der rund um die Uhr im Einsatz ist. Hier kommt aber wiederum ein fremder Arzt, dem man in der Aufregung vielleicht nicht alle relevanten Details mitteilt.
Warum also machen immer weniger Ärztinnen und Ärzte Hausbesuche? In der Ärztekammer Wien glaubt man, den Grund zu kennen: "Die WGKK verrechnet 43,50 Euro für die Hinfahrt, die Behandlung und die Rückfahrt. Das ist recht dürftig wenn man bedenkt, was Handwerker oder Schlüsseldienste verrechnen." Für weitere Konsultationen im selben Haushalt oder im gleichen Seniorenheim können dann weitere 12 Euro in Rechnung gestellt werden. Dazu kommen die regulären Leistungen, die Arzt oder Ärztin am Krankenbett verrechnen. Bei der WGKK glaubt man naturgemäß nicht, dass man zuwenig bezahlt und verweist darauf, dass man den Tarif stark angehoben habe und im Juli wieder erhöhen werde. Außerdem: Hausbesuche seien verpflichtend. Tatsächlich findet sich ein entsprechender Passus im Vertrag, den die Ärzte mit der WGKK abschließen: "Krankenbesuche sind durchzuführen, wenn dem Erkrankten aufgrund seines Zustandes das Aufsuchen des Vertragsarztes nicht zugemutet werden kann", heißt es da. Sie müssen ihre Patienten aber nicht aktiv auf diese Möglichkeit hinweisen.
Die Stadt wächst und die Stadt reift
Ärztin Katharina Dvorak-Huber glaubt schon, dass eine bessere finanzielle Abgeltung ihre Kolleginnen und Kollegen wieder zu mehr Hausbesuchen motivieren könnte. Nötig wäre es vor allem für die älteren Wienerinnen und Wiener, appelliert Seniorenbeauftragter Andreas Höferl. Und derer gibt es ja immer mehr: 2030 soll es laut Prognose der Stadt mehr als 180.000 Über-80-Jährige in Wien geben. 2016 gab es im Vergleich dazu lediglich 136.600 Personen, die 75 Jahre oder älter waren.
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