GEDICHT
DER FLUSS UND DIE WÜSTE von Roland Kernstock
Ein Fluss, der hoch am Berg entsprang,
der floss an grünem Gras entlang;
er fiel hinab als Wasserfall
und formte ein verwunsch´nes Tal
an einem wunderschönen Tag -
bis eine Wüste vor ihm lag.
Er hatte während vieler Stunden
Hindernisse überwunden
und dachte sich: Mir wird´s gelingen,
die Wüste hinter mich zu bringen.
Ich werde meine Wege finden
und diese Wüste überwinden.
Doch merkte er, wie rasch im Sand
sein Wasser niedersank und schwand.
Da konnte er die Wüste hören:
"Du schickst dich an, mich zu durchqueren?
So schau hinauf zum Windeshauch -
der Wind zieht fort! Du kannst es auch!"
"Der Wind kommt durch die Luft geflogen
und wird vom Sand nicht aufgesogen!",
protestierte da der Fluss.
"Der Wind kann fliegen! Doch ich muss
den Weg durch deinen Sand mir graben,
und werde es viel schwerer haben!"
"Nun, wenn du reist so wie gewohnt,
erreichst du nie den Horizont.
Dir verschließt sich jedes Tor -
bestenfalls wirst du ein Moor.
Doch du musst fest nur an dich glauben
und dem Luftstrom es erlauben,
dich zu tragen mit den Winden -
sonst wirst du im Sand verschwinden."
"Und wie soll´s jetzt weitergehen?"
sprach der Fluss. - "Du wirst schon sehen,"
hörte er die Wüste sagen.
"Lass vom Wind dich aufwärts tragen!"
Dies war für den Fluss jedoch
unannehmbar - schlimmer noch:
Er verlöre sicherlich
seine Eigenart - sein "ich"!
Und wenn die Eigenarten schwinden -
wie sollte man sie wiederfinden?
Die Wüste fügte nun hinzu:
"Der Wind folgt seinem Weg - wie du!
Er nimmt das Wasser aus dem Fluss,
so dass es nicht versickern muss,
und trägt es über all den Sand
bis in ein fernes, grünes Land.
Dort fällt als Regen es hernieder
und wird zu einem Fluss dann wieder."
Der Fluss war skeptisch, dachte nach,
bevor er zu der Wüste sprach:
"Wie weiß ich denn, dass es so ist,
und dass mein Wasser wieder fließt?"
"Es ist so," hörte er die Wüste leis,
"und dennoch zweifelst du - ich weiß."
Da kam dem Fluss noch in den Sinn:
"Kann ich nicht bleiben, wie ich bin?"
"Nein! Dein ´ich´ wird fortgetragen,"
hörte er die Wüste sagen;
"du kannst nicht bleiben, was du bist!
Was gut und wichtig an dir ist,
das ist das, was bleiben muss,
und bildet wieder einen Fluss.
Und was du jetzt gerade bist,
das ist ein Fluss, der vorwärts fließt.
Doch was von dir ist wesentlich;
welcher Teil von dir dein ´ich´?"
Der Fluss lauschte den Worten allen
und spürte etwas widerhallen:
Erinnerung an einen Flug,
als der Wind ihn einst schon trug,
weit hinauf auf breiten Schwingen -
würde dies erneut gelingen?
Da ließ der Fluss den Weg sich zeigen
und dann sein Wasser aufwärts steigen.
Sanft aufwärts trug der Wind ihn sacht,
wohl einen Tag und eine Nacht,
behutsam, wie mit sanftem Flügel,
über die sandbedeckten Hügel,
wo jeder Fluss, wie er nun wusste,
rettungslos versiegen musste.
Kein Tropfen ging von ihm verloren!
Der Fluss, er wurde neu geboren,
bis ihn in einem Paradies
der Wind zu Boden fallen ließ.
Dort gab es Blumen, Bäume, Kräuter -
der Fluss floss weiter, immer weiter...
Ihr trinkt sein Wasser, und er lernte,
während der Wind sich rasch entfernte,
und sprach zu sich im Morgenschein:
"Ja! Jetzt kann ich ich selber sein!"
Die Wüste, nun schon weit entfernt,
sie flüsterte: "Er hat gelernt.
Doch würd´ uns Wüsten es nicht geben -
was wüsste dann ein Fluss vom Leben?"
Und deshalb sagt man: "Nicht vergebens
sind Reisen auf dem Strom des Lebens,
und Namen derer, die uns lieben,
sie sind in den Sand geschrieben."
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