Corona-Krise
Zum ersten Mal obdachlos im Leben

Noch nie in so einer Situation gewesen: Viele Personen kommen jetzt das erste Mal an die Grenze zum sozialen Abstieg. Die Sozialvereine versuchen Hilfe zu leisten und das Gröbste zu verhindern.
  • Noch nie in so einer Situation gewesen: Viele Personen kommen jetzt das erste Mal an die Grenze zum sozialen Abstieg. Die Sozialvereine versuchen Hilfe zu leisten und das Gröbste zu verhindern.
  • hochgeladen von Agnes Czingulszki (acz)

Die Corona-Krise führt zu tragischen Schicksalen. Innsbrucker Sozialvereine merken, dass vermehrt Hilfesuchende kommen, die zum ersten Mal Hilfe benötigen.

INNSBRUCK. Gertraud Gscheidlinger leitet seit Jahren die Katharinastube am Fuß der Mühlauer Brücke. Sie hat viele Menschen gesehen, die auf die eine oder andere Weise in existenzielle Schieflagen geraten sind. Die Katharinastube bot diesen Menschen nicht nur immer eine warme Mittagsmahlzeit, ein Frühstück und die Möglichkeit sich zu waschen, sondern auch einen Ort zum Verweilen. "Das ist wohl das schlimmste an der ganzen Situation. Den Leuten geht die soziale Wärme und der Austausch ab", schildert sie die aktuelle Lage.
Die Essensausgabe und das Duschangebot werden noch immer – unter Einhaltung der Hygienemaßnahmen – durchgeführt und auch Beratung versucht man noch zu geben. "Zwischen Tür und Angel oder per Mail", wie Gscheidlinger erklärt. Dabei sind auch Personen im Kreis, die noch nie hier waren und zum ersten Mal von Obdachlosigkeit betroffen sind. Z.B. jemand aus der Gastronomie, der durch den Lockdown im Frühjahr nicht nur seinen Job, sondern auch seine vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellte Bleibe verloren hat. Als Ausländer ohne soziales Netz landete der Mann um die vierzig auf der Straße. Ein starker, fitter Mensch. Nun kämpft er gegen den langfristigen sozialen Abstieg. "Das ist wirklich schwierig, denn dann kommt auch irgendwann das Alkoholproblem. Man lässt sich einfach von den anderen mitziehen", wie Gscheidlinger weiß.  Aber auch Frauen, die plötzlich ihre Arbeit verloren hatten, stellen sich an, um eine warme Mahlzeit zu bekommen.

Wartezeiten bei der Sozialberatung

Andrea Ertl-Stigger von der Caritas-Sozialberatung muss ebenfalls vermehrt neue Personen in die Welt der Anträge und Förderungsmöglichkeiten einweihen. "Viele konnten diese Situation bisher herauszögern, aber jetzt merken wir einen großen Anstieg an Erstberatungen. Viele kommen in prekäre Arbeitsverhältnisse. Besonders Frauen, die Teilzeit oder geringfügig beschäftigt waren, wurden entlassen und suchen einen Job." Gemeinsam wird nach Möglichkeiten am Arbeitsmarkt gesucht, aber auch nach Einsparungspotenzial im Haushaltsbudget. Ertl-Stigger berichtet von vollen Terminkalendern der Berater und Beraterinnen in den verschiedenen Landesstellen von Reutte bis Innsbruck. Statt einer sofortigen Beratung, muss man nun – abhängig vom Problem – mit 3-4 Tage Wartezeit rechnen.

BARWO: "Wir haben einen unglaublichen Ansturm"

Michael Hennermann ist Geschäftsführer des Vereines für Obdachlose, das nicht nur die Teestube betreibt, sondern auch das BARWO, das ähnlich zur Caritas-Sozialberatung Hilfeleistung in Fällen von Arbeitslosigkeit oder Wohnungsprobleme bietet. "Es gibt aktuell einen unglaublichen Ansturm", erklärt er. Gemeinsam sucht man Arbeit oder eine Wohnung. "Was vor zwei Jahren in der Zeit der Hochkonjunktur eine eher lockere Angelegenheit war, ist jetzt total frustrierend, da es keine Stellen gibt", so seine Einschätzung. Das ist auch besonders für Menschen, die Mindestsicherung beziehen, ein großes Problem. Denn Mindestsicherung ist u. a. auch daran geknüpft, dass man sich bewerbt. "Hier wird hart durchgegriffen und streng auf die Einhaltung geachtet. Dabei tut man sich aktuell besonders schwer, um eine Stelle zu finden. Hier würde ich mir von der öffentlichen Hand und den Behörden mehr Flexibilität wünschen und, dass auch hier das kolpotierte 'Zsammhaltn' umgesetzt wird."

Polizei geht mit Obdachlosen mit Fingerspitzengefühl um

In der Teestube werden wiederum zirka achtzig Personen täglich betreut. Hier bekommen wohnungslose Menschen schnelle Hilfe – Kleider, Essen, eine warme Stube. "Es sind aber nicht immer die gleichen achtzig Personen und natürlich kommen sie am Tag verteilt in die Teestube", erklärt Hennermann. Im Winter wird es für obdachlose Personen außerdem immer schwer und der Druck steigt. Corona macht das noch schlimmer: "In der coronabedingten Ausnahmesituation wird vielen natürlich noch mehr bewußt, in welcher Notsituation sie sich befinden. Es fehlen auch viele öffentliche und halböffentliche Räume – z.B. Einkaufszentren – für den Aufenthalt." Zumindest scheint die Polizei ausreichend Verständnis für die Situation mitzubringen: "Wie bereits beim ersten Lockdown geht die Polizei insgesamt schon mit Fingerspitzengefühl an die Sache heran. Die trotzdem ausgestellten Strafen, die an uns herangetragen wurden, konnte abgewendet werden. Im jetzigen Lockdown ist mir aber noch nichts Negatives zu Ohren gekommen", so Hennermann.
Was alle drei Sozialvereine beschäftigt, ist die Perspektivlosigkeit. "Es ist sehr frustrierend, wir müssen mit Durchhalteparolen arbeiten, aber unrealistisch Hoffnungen zu machen – davon hat auch niemand was", bringt es Hennermann auf den Punkt.

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