Kinderschutz in Kärnten
Vernachlässigung ist häufigste Form der Kindeswohlgefährdung

Raphael Schmid leitet die Fachstelle für Qualitätsentwicklung im Kärntner Kinderschutz und weiß: "Kinderschutz geht uns alle an!" | Foto: Stephan Fugger/KRM
  • Raphael Schmid leitet die Fachstelle für Qualitätsentwicklung im Kärntner Kinderschutz und weiß: "Kinderschutz geht uns alle an!"
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Kindeswohlgefährdung kann in den besten Familien vorkommen. Heute sind Eltern oftmals überlastet. Aber es gibt Hilfe!

KÄRNTEN. Im Jänner startet in Kärnten eine groß angelegte Kampagne, die Gewalt in der Erziehung thematisiert (wir berichteten). Studien zufolge leidet ein Viertel der Sechs- bis 14-Jährigen – auch in Kärnten – unter einem "gewaltbelasteten Erziehungsstil". Wir sprachen dazu mit Raphael Schmid, Leiter der Fachstelle für Qualitätsentwicklung im Kärntner Kinderschutz.

WOCHE: Es gibt eine Steigerung bei den Gefährdungsabklärungen – von 2014 auf 2018 haben sie sich quasi verdreifacht. Warum?
RAPHAEL SCHMID:
Das hat zwei Gründe: Die Bevölkerung steht dem Thema sensibler gegenüber und so steigt die Bereitschaft, Verdacht auf Kindeswohlgefährdung zu melden. Außerdem gab es 2013 eine gesetzliche Veränderung, eine Schärfung der Mitteilungspflicht für einige Berufsgruppen, mit einem Effekt von gesteigerten Zahlen ab dem Jahr 2015.

Gefährdungs-Abklärungen durch die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe

Entwicklung der letzten Jahre:

  • 2014: 1.118
  • 2015: 2.016
  • 2016: 2.078
  • 2017: 2.177
  • 2018: 2.995
  • Welche Formen von Kindeswohlgefährdung sind in Kärnten am häufigsten?
    Vernachlässigung kommt am häufigsten, nämlich in rund 50 Prozent aller gemeldeten Fälle vor – manchmal auch in Kombination mit anderen Formen der Kindeswohlgefährdung. Gewisse Schwierigkeiten gibt es noch im Nachweisen von psychischer Misshandlung. Gemeldet werden Verdachtsfälle zum Großteil durch das soziale Umfeld – also Nachbarn, Freunde und Verwandte – oder von der Polizei, mit der eine gute Zusammenarbeit herrscht, aber auch von Schulen, Kinderbetreuungseinrichtungen, medizinischen Fachkräften und sozialen Einrichtungen. In vielen Fällen melden sich auch Jugendliche oder Eltern mit Unterstützungsbedarf direkt selber beim "Jugendamt".

    Formen der Kindeswohlgefährdung

    Körperliche Misshandlung:

  • gezielte Gewalt, die zu körperlichen Verletzungen führt oder das Potential dazu hat
  • Psychische Misshandlung:

  • Terrorisieren
  • Isolieren
  • feindselige Ablehnung
  • Ausnutzen
  • Verweigern emotionaler Responsivität
  • Sexueller Missbrauch

    Vernachlässigung:

  • unterlassene Fürsorge (phyisch in den Bereichen Ernährung, Hygiene, Wohnsituation oder Kleidung; emotional; erzieherisch)
  • unterlassene oder unzureichende Beaufsichtigung oder Aussetzung einer gewalttätigen Umgebung
  • Was sind die Aufgaben der Fachstelle für Qualitätsentwicklung im Kärntner Kinderschutz?
    Unser großes Ziel ist, Berufsgruppen fortzubilden und zu stärken, die mit Kindern, Jugendlichen und Familien zu tun haben – z. B. Pädagogen, Ärzte etc. Bei vielen Berufsgruppen, welche die Mitteilungspflicht trifft, ist Kinderschutz in der Ausbildung entweder gar nicht oder nur marginal enthalten. Wir unterstützen auch die Kinder- und Jugendhilfe, fördern Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung und sorgen für interdisziplinären Austausch, zum Beispiel zwischen Ärzten und der Kinder- und Jugendhilfe. Wir wenden uns auch der Frage zu, ob es ausreichend viele und dem inhaltlichen Bedarf entsprechende Hilfsangebote für Betroffene gibt.

    Gibt es bereits Erfolge der Fachstelle, die es ja in dieser Art nur in Kärnten gibt?
    Qualitätsentwicklung – überhaupt wenn es das Zusammenspiel von so vielen unterschiedlichen mit Kinderschutz-Aufgaben betrauten Berufsgruppen betrifft – ist ein langsamer Prozess und ein mehrjähriges Vorhaben. Aus Kärntner Bemühungen heraus wurde eine gesetzliche Änderung in der Ausbildung der Elementarpädagogen zum Thema Kinderschutz österreichweit herbeigeführt. Kärntner Elementarpädagogen sind sehr neugierig, was das Thema betrifft, wollen lernen, fühlen sich stark für das Kindeswohl verantwortlich. Das wollen wir unterstützen und hier finden wir bereits wunderbare Kooperationen vor.

    Welche Anzeichen kann ich bei Kindern und Jugendlichen bemerken, wenn es um Kindeswohlgefährdung geht?

  • Ich sehe körperliche Gewalt oder das Kind berichtet mir glaubhaft davon – oder von psychischer Misshandlung.
  • Ich beobachte eine nicht adäquate Ansprache zwischen Eltern und Kind wie Drohungen, Beschimpfungen, Abwertungen.
  • Ich beobachte auffallende hygienische oder körperliche Verwahrlosung.
  • dramatische Verhaltensveränderungen
  • Selbstverletzung
  • Weglaufen
  • auffällige Traurigkeit
  • Nicht altersgerechtes Nachspielen von sexuellen Handlungen (auch mit Spielzeug, Puppen) oder auffallend sexualisierte Sprache.
  • Bei Eltern: Als Bekannter/Freund muss ich überlastete Eltern ernst nehmen und unterstützen. Kann ich dir das Kind mal abnehmen?
  • Gibt es Berufsgruppen, wo das Thema noch nicht so angekommen ist?
    Bei vielen Ärzten ist Kinderschutz leider noch ein Randthema, da müssen wir einen Zugang finden. Bei bestimmten Berufsgruppen müssen wir uns in die Ausbildung hineinreklamieren.

    Werden die Fälle mehr und schlimmer?
    Grundsätzlich gehe ich nicht davon aus, dass es heute mehr Kindeswohlgefährdungen als in der Vergangenheit gibt. Positiv ist, dass die Gesellschaft über mehr Bewusstsein verfügt, was Kinder brauchen, um gut aufzuwachsen. Die "Watschn" und andere Formen schwerer körperlicher Züchtigung sind heute weitestgehend verpönt. Die negative Entwicklung ist, dass in Familien durch die Beschleunigung des Lebens mehr Druck, Stress und damit Überlastung herrscht.

    Sind besonders schlimme Fälle für Sie erklärbar?
    Erklärbar sind die Fälle nahezu immer, wenn man sich im Nachhinein intensiv mit der Lebenssituation der Familie befasst. Gründe für Gewalt sind oft nachvollziehbar, das sage ich auch als Vater von zwei Töchtern. Es sind aber die breiten und potentiell schwerwiegenden Folgen von Gewalt bei Kindern und Jugendlichen, die mich erschüttern: sinkende Lebenserwartung, erhöhte Gefahr von Herz- und Hormon-Erkrankungen oder chronischen Erkrankungen, höhere Wahrscheinlichkeit von Suchtverhalten und von psychischen Erkrankungen…

    Tipps für Eltern, die überfordert sind oder Stress haben:

  • In der Auseinandersetzung mit dem Kind/Jugendlichen nicht glauben, in jedem Moment sofort reagieren zu müssen.
  • Durchschnaufen, aus dem Zimmer gehen."
  • Sich Zeit fürs Kind nehmen. Wenn es selbst nicht geht, Verwandte und Freunde fragen.
  • Das Kind regelmäßig loben und ihm sagen und zeigen, dass man es liebt.
  • Über Eskalationen reden: Wie können wir das in Zukunft gemeinsam vermeiden? Und wenn es doch passiert, besser damit umgehen.
  • Codewort oder Zeichen ausmachen, wenn es "reicht".
  • Auf sich und seine eigenen Bedürfnisse achten.
  • Beratungsstellen nutzen! Hilfe holen ist normal!
  • Nimmt man die Arbeit mit nach Hause?
    Manchmal ja, manchmal nein. Nachdem wir es ja im Kinderschutz immer auch mit Schicksalen von Kindern, Jugendlichen und Familien zu tun haben – insbesondere natürlich in der Arbeit am Jugendamt –, ist es eine große Herausforderung auch für die eigene Psychohygiene zu sorgen, sodass man möglichst immer mit einem klaren Kopf und bedachtem Vorgehen im Beruf agieren kann. 

    Gehen Sie daheim anders an die Erziehung Ihrer vierjährigen Zwillinge heran?
    Ich versuche es. Etwa besonders fröhlich heimzukommen nach einem harten Tag. Aber ich schaffe es bei weitem auch nicht immer.

    Hier sind die Hilfsangebote für Betroffene zusammengefasst:
    kinderschutz.ktn.gv.at

    Gewalt in der Erziehung ist nach wie vor präsent

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