Carinthija 2020 - öffentliche Ringvorlesung an der AAU
"100 Jahre Mythos Kärnten". Dialektisches von der AAU zu 'Carinthija 2020'
Öffentliche Vorlesungsreihe des Robert-Musil-Instituts/Kärntner Literaturarchivs
an der Universität Klagenfurt:
100 Jahre Mythos Kärnten
04.03. – 24. 06. 2020
Mittwochs, 17.30 – 19.00 Uhr
HS 4, AAU Klagenfurt
Walter Fanta, Dominik Srienc
Organisation/ organizacija
Zunächst einmal das Positive. Dieser Tage startet die Veranstaltungsreihe „Carinthija 2020“. Anlässlich des großen Festes 100 Jahre Volksabstimmung 10. Oktober 1920 – 10. Oktober 2020. Die berechtigten Feierlichkeiten begannen mit einem großen Festakt am 4. März um 9 Uhr 30 MEZ, ist gleich 0 Uhr 30 a.m. in Los Angeles, Kalifornien und konnten auch hier in LA via ORF 3 gestreamt von den Auslandskärntnerinnen und -Kärntnern live gesehen werden. Und wir haben uns sehr gefreut.
Und plötzlich sind sie alle wieder da: die Damen im Dirndlkleid und die Herren im Kärntneranzug. Die Mädels und Buden, die zweisprachige Gedichte rezitieren. Die Teenager vom Gymnasium, die Befindlichkeiten zweisprachig vortragen. Der Mädchen-Chor ‚die jungen Stimmen‘ und natürlich auch der große ‚Tonc Feinig‘ vom Jazz. Der Herr Landeshauptmann spricht eine Rede. Es sind alle da die den ‚Mythos Kärnten‘ ausmachen.
Und wieso auch nicht? Wieso sollte mein Bundesland „Kärnten“ nicht einen Mythos sein Eigen nennen? Wieso solle MEIN Kärnten nicht sogar MEHRERE Mythen sein Eigen nennen?
„Es war einmal im Westen“. „Es war einmal in Hollywood“. „Es war einmal in Kärnten“, so beginnen die ganz großen Geschichten, die in die Geschichte eingehen werden. Die Geschichten, die ich mich als Kind und als Mädchen entzückt haben und ich gebe es zu, ich war auch eine von jenen, die im Dirndlkleid bei passender Gelegenheit ein Gedicht von Wilhelm Rudniger vorgetragen haben und ich habe mich sehr über den Applaus gefreut. Und dennoch konnte mich kein Wörthersee, keine Fête Blanche, kein Stadttheater Klagenfurt, kein ‚Stereo-Club‘ und kein Cafe Ingeborg Bachmann und keine AAU aufhalten als ich mit 21 Jahren in die USA ausgewandert bin, einem Land der ganz großen Mythen und Legenden. Hollywood, die weltbekannte Traumstadt für die Kinofans, in der Fakten, z.B. über den amerikanischen Bürgerkrieg, längst zur puren Erfindung mutiert sind. Jeder hier weiß das, niemanden stört das.
Was hat das mit der wichtigen Ringvorlesung an der AAU zu tun, in der eben der „Mythos Kärnten“ untersucht werden soll? Ein Mythos, der im Vergleich zur USA, nur winzigen und unbedeutend sein kann. Ein Mythos, der jedoch, wie in den USA denselben Mechanismen folgt: aus Fakten werden Halbwahrheiten und Legenden.
Dieses „Konstrukt“ zu hinterfragen ist natürlich sinnvoll, ob Roland Barthes ‚Mythen des Alltags‘ als geeigneter Hebel dafür tauglich ist, sollte überdacht werden. Das lesenswerte Buch ist bereits 1957 in Frankreich erschienen und Roland Barthes mag bei seinen Untersuchungen das Nachkriegsfrankreich gedient haben. Ein Frankreich, das nach dem Krieg, den allgemeinen Widerstand sofort zur Legende erhoben hat. Diese Legenden haben sich in Frankreich, aber auch in unserem Nachbarland Italien sehr schnell in der Unterhaltungsliteratur und im Film erfolgreich durchgesetzt, siehe z.B. „Don Camillo und Peppone“ von Giovannino Guareschi, in der Originalausgabe, erschienen 1948, kommt Don Camillo aus den Konzentrationslagern Dachau und Mauthausen nach Italien zurück und ist dementsprechend wütend auf die, die ihn ins KZ gebracht haben, in der deutschsprachigen Ausgabe und ab 1960 auch in der italienischen, wurde diese Textpassage ganz gestrichen, wohl auch um den kommerziellen Erfolg der Romane zu erhöhen.
In Frankreich waren es die Krimis von Claude Chabrol, die in einem verschwiegenen Frankreich nach dem Algerienkrieg spielten, der für die französische Armee im Desaster geendet hat. Die Legende des französischen Kinos vermittelt, dass entlassene Fremdenlegionäre Verbrechen in der tiefsten Provinz begehen. (z.B. Der Schlachter, F/I 1970, Regie: Claude Chabrol). Man könnte diese Liste der französischen „Legende-Filme“, die sich alle am amerikanischen Gangster-Film, oder sogar am amerikanischen Western orientieren, siehe Jean-Pierre Melville (Vier im roten Kreis, F/I 1970) oder Henri Verneuil (Der Clan der Sizilianer, F/I 1969) beliebig fortsetzen, sie wurden alle Welterfolge, gerade weil sie Legenden erzählen, die Fakten spielten dabei keine Rolle.
Und das obwohl Roland Barthes mit seinem Buch „Mythen des Alltags“ (1957) damals ganz aktuell war und der Autor leidenschaftlich mit anderen französischen Intellektuellen diskutierte. Niemand hat sich in Frankreich darum gekümmert (!). Sie, die Franzosen, wollten alle so schnell wie möglich, neue Mythen erzeugen, denen sie selbst auf ‚den Leim gehen‘ konnten.
Daher darf durchaus listig dialektisch gefragt werden, wieso kann sich das Bundesland Kärnten keine Mythen erlaubt? Oder noch listiger gefragt: wieso hat das Bundesland Kärnten 100 Jahre gebraucht, um einen entsprechenden Mythos zu entwickeln?
Und wo waren alle Dialektiker, die in der öffentlichen Ringvorlesung ihre Thesen und Antithesen zum „Thema: 100 Jahre Mythos Kärnten“ bisher? Roland Barthes Buch „Mythen des Alltags“ ist bereists 1957 erschienen, in der deutschsprachigen Übersetzung 1964, es wäre also genug Zeit gewesen. Während an der AAU das Mythos Kärnten genüsslich zerpflückt werden soll, bastelt man anderswo geschäftstüchtig an neuen Mythen. Der Mythos der Normandie, der Mythos der Bretagne usw. den Mythos von Venedig, den Mythos von Triest usw. alles in launigen Kriminalromanen munter verpackt. Den Mythos von Südengland (Cornwall) z.B. Rosamunde Pilcher, in der süffigen Liebesschnulze, die es (leider) noch nicht bis zum Wörthersee gebracht hat. Überall geht es hier nur um den ‚schnöden Mammon‘, dem Tourismus, der klingelnden Kasse. Die Fakten der historischen Ereignisse sind längst zu Gunsten der Legenden auf der Strecke geblieben.
Die zweifellos wichtige Diskussion über das Thema „Mythos Kärnten“ kommt um mindestens 30 Jahre zu spät und der gut gemeinte wissenschaftliche Disput interessiert gelinde geschrieben nur einer kleinen wissenschaftlichen Minderheit. Die launige Mehrheit im Land träumt von Mythen, von einem Land der Legenden, von Jahrzehnten wie den 1980er und 1990er Jahren und der träumerischen Verklärung der Erinnerung und ich in Los Angeles esse am Freitag mit meinem Mann und meinen Freunden ‚Kärntner Nudel‘ und wir träumen.
Doch wie sagte der große Marcel Pagnol über seine Kindheit in der Provence so treffend: „Im Blick zurück ist alles nur Nostalgie“ (Marcel Pagnol, 1963)
Mehr Mythen aus Kärnten fordern Christine Trapp & Monica B. Armstrong!
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