Zeitgleiches "Tauschgeschäft" in Wörgl vorgestellt

Bei der Zeitpolster-Präsentation v.l. NR GR Christian Kovacevic, Referent Gernot Jochum-Müller, Ehrenamtskoordinatorin Christine Deutschmann und Komm!unity-Geschäftsführer Klaus Ritzer. | Foto: Veronika Spielbichler
  • Bei der Zeitpolster-Präsentation v.l. NR GR Christian Kovacevic, Referent Gernot Jochum-Müller, Ehrenamtskoordinatorin Christine Deutschmann und Komm!unity-Geschäftsführer Klaus Ritzer.
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WÖRGLER (vsg). Die Idee ist einfach: Jetzt ältere Menschen oder Familien mit Kindern mit Betreuungsleistungen unterstützen, die erbrachten Stunden als Zeitguthaben ansparen und damit dann selbst im Alter Hilfe in Anspruch nehmen. Wertgesichert, denn eine Stunde bleibt eine Stunde. Das bietet das Projekt "Zeitpolster", das jetzt österreichweit startet und am 22. Jänner in Wörgl vorgestellt wurde.
Was in Japan seit gut zwei Jahrzehnten erfolgreich funktioniert und Generationen verbindet, wurde vom Förderverein Zeitvorsorge mit Sitz in Dornbirn für die Umsetzung in Österreich gesetzeskonform angepasst. Federführend dabei war der Unternehmensberater und Organisationsentwickler Gernot Jochum-Müller. Einbringen konnte Jochum-Müller dabei seine jahrzehntelange Erfahrung als „social entrepreneur“ beim Aufbau des Talente-Tauschkreises, von Regionalwährungen und der Allmenda-Genossenschaft mit Aktivitäten vom Bau von Bürger-Solarkraftwerken bis hin zu Software-Entwicklung und Elektro-Mobilität. Ganz nach dem Motto Menschen aktivieren, Regionalwirtschaft und Solidarität stärken und dabei gemeinwohlorientiert und nachhaltig agieren.
Wörgls Sozialreferent NR Christian Kovacevic begrüßte 28 Interessierte zur Zeitpolster-Präsentation im Wörgler Seniorenheim, die vom Verein Komm!unity mit Unterstützung von Wörgls Ehrenamtskoordinatorin Christine Deutschmann und des Unterguggenberger Institutes organisiert wurde. Das Zeitpolster-Modell wurde angeregt diskutiert und hinterfragt, wobei Befürchtungen dahingehend geäußert wurden, dass der Zeitguthaben-Anreiz eine Konkurrenz fürs Ehrenamt darstelle. „Am Ehrenamt führt kein Weg vorbei. Ehrenamtliche nützen aber Zeitpolster zusätzlich“, erklärte Jochum-Müller und sieht im System eine weitere Säule der Altersvorsorge. Da das Potenzial Ehrenamtlicher begrenzt ist, stellt die Gesellschaft angesichts des steigenden Bedarfes an Betreuungsdiensten vor Herausforderungen.
"Wir werden umdenken müssen. Wer heute noch fit ist und Zeit geben kann, bekommt das später eins zu eins retour. Es ist ein Tauschgeschäft. Wir werden die Idee weiterverfolgen“, erklärte Kovacevic, der die Zeitvorsorge auch im Gemeinderat thematisieren will und eine Umsetzung im Hinblick auf die Vorbildwirkung Wörgls in der Tradition des Wörgler Freigeldes begrüßen würde. Als nächster Schritt sollen im Bereich der Betreuungsdienste tätige Einrichtungen wie Gesundheits- und Sozialsprengel, Ehrenamtskoordination und Komm!unity den Bedarf in Wörgl und in der Region ausloten.

Gernot Jochum-Müller im Interview

Frage: Zeitpolster – was ist das?
Gernot: „Zeitpolster ist eine zusätzliche, auf Zeit basierte Altersvorsorge, bei der jeder mitmachen kann. Hilfsbereite Menschen unterstützen ältere Personen oder Familien mit Kindern im Alltag. Die erbrachte Zeit wird auf ein Zeitkonto gutgeschrieben und kann dann selbst im Alter in Form von Betreuungsleistungen in Anspruch genommen werden.“

Frage: Wie kommt man jetzt ohne vorhandene Zeitguthaben zu Betreuungsleistungen?
Gernot: „Wer jetzt Hilfe benötigt, zahlt pro geleisteter Stunde 8 Euro.“

Frage: „Wer garantiert, dass ich im Alter dann meine Stunden auch einlösen kann?“
Gernot: „Die beste Garantie sind die Mitglieder aktiver Zeitpolster-Gruppen. Sie begründen einen neuen Generationenvertrag. Für den Fall, dass wider Erwarten in zehn Jahren nicht mehr ausreichend Betreuungsleistungen gegen Zeitgutschrift erbracht werden, besteht ein Notfallkonto, mit dem der Zukauf von Betreuungsleistungen für die früheren Helfer unterstützt werden kann. Drei Euro pro Stunde fließen in diesen Notfalltopf, weitere drei werden für die Organisation des Netzwerkes aufgewendet und zwei für Steuern und Sozialversicherung. “

Frage: Wer kann mitmachen?

Gernot: „Jeder, wobei wir uns vor allem an Menschen ab 55 Jahren wenden, die Zeit haben und nicht berufstätig sind. Wir haben mit Juristen einen Weg gefunden, der sozialversicherungsrechtlich abgesichert und nicht steuerpflichtig ist. Der Trägerverein Zeitvorsorge gewährt allen Mitgliedern umfangreichen Versicherungsschutz. Jeder entscheidet selbst, wieviel Zeit angespart wird. Gleichzeitig ansparen und Leistungen in Anspruch nehmen geht allerdings nicht. Die Zeitguthaben können verschenkt, aber nicht vererbt werden.“

Frage: Warum mitmachen?
Gernot: „Man kann für sich selbst etwas Gutes tun und wird dafür wertgeschätzt. Von der Aktivierung der Bürger profitiert auch die Gemeinschaft, da dadurch Betreuung leistbar bleibt. Die demografische Entwicklung zeigt, dass der Bedarf an Betreuungsleistungen stark ansteigen wird. Die Erwerbsquote war noch nie so hoch wie heute, damit bleibt weniger Zeit für Nachbarschaftsdienste. Die klassische Freiwilligenarbeit reicht vielfach nicht mehr aus. Das Zeitpolster-Modell ist Freiwilligenarbeit mit Anreiz, sichert regionale Betreuung und bringt Lebensqualität für alle.“

Frage: Ist Zeitvorsorge ein Ersatz fürs Ehrenamt?
Gernot: „Keinesfalls. Das Ehrenamt wird es weiterhin brauchen. Wir wissen aber aus der Erfahrung des Zeitvorsorge-Projektes in St. Gallen in der Schweiz, dass dieses Modell neue Zielgruppen für Betreuungsdienste erschließt. Nach drei Jahren sind rund 140 Helfer im Einsatz, 40 Prozent davon waren vorher nicht ehrenamtlich tätig. Und das System spricht vermehrt auch Männer an, sich zu engagieren. Gemeinden und Regionen erhalten damit ein praktisches Werkzeug, um die Betreuungssituation vor Ort zu verbessern.“

Frage: Welche Hilfeleistungen bringt Zeitpolster?
Gernot: „Das reicht von Fahrdiensten und Begleitungen bei Arztterminen oder Behördenwegen über gemeinsames einkaufen, kochen, Hilfe im Haushalt und am Computer bis hin zu Freizeitaktivitäten und handwerklicher Unterstützung im Garten, beim Schneeschaufeln oder kleineren Reparaturen im Haus. Zeitpolster-Dienste schaffen auch Freiraum für pflegende Angehörige und unterstützen Familien, wenn z.B. Kinder krank sind und die Eltern arbeiten müssen.“

Frage: Was braucht man zum Start?

Gernot: „Fünf Leute können schon eine Gruppe starten. Ideal ist, wenn eine Gemeinde, eine Pfarre, ein Verein oder eine bestehende Einrichtung bei Aufbau und Organisation unterstützen. Der Trägerverein Zeitvorsorge führt die Zeitkonten, schult und unterstützt die Gruppen, stellt ein Organisationshandbuch zur Verfügung. Die Abrechnung mit Leistungsbeziehern erfolgt durch den Trägerverein, die Vermittlung von Betreuungsdiensten vor Ort.“

Frage: Gibt es schon aktive Zeitpolster-Gruppen?
Gernot: „Nach den umfangreichen Vorarbeiten über mehrere Jahre mit Abklärung aller juristischen Fragen sind wir jetzt startklar. Mittels einer Förderung durch die Wirtschaftsagentur Wien erfolgt dort der Aufbau von Gruppen in den nächsten zwei Jahren. Vorarlberger Sozialsprengel bereiten die Umsetzung ebenso vor wie das Waldviertler Kernland, zwei Gemeinden in Kärnten und drei Regionen in Oberösterreich. Ziel ist, die Zeitvorsorge als zusätzliche Säule der Altersvorsorge in ganz Österreich zu etablieren.“

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