Ronald Barazon in Kufstein über die "Sinuskurve der Geschichte"

"Entweder sind sie keine Fußballfans, oder tapfer", meinte Ronald Barazon zu den Anwesenden mit Blick auf den gleichzeitig stattfindenden Länderspiel-Test.
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  • "Entweder sind sie keine Fußballfans, oder tapfer", meinte Ronald Barazon zu den Anwesenden mit Blick auf den gleichzeitig stattfindenden Länderspiel-Test.
  • hochgeladen von Sebastian Noggler

KUFSTEIN (nos). "Sind wir wieder im Jahr 1914?" lautete die titelgebende Frage zur Veranstaltung am Dienstag, dem 29. März, zu der die Mittelschulverbindung "K.Ö.St.V. Cimbria Kufstein" ins Gymnasium der Festungsstadt lud. Wirtschaftsjournalist Ronald Barazon, elf Jahre lang Chefredakteur der Salzburger Nachrichten, bot ein kurzweiliges doch nicht minder tiefschürfendes Impulsreferat und stellte sich im Anschluss bereitwillig den Fragen und Thesen der Zuhörer.
"Alt-Cimber" Christian Drechsler begrüßte als Moderator die Interessierten, konnte sich aber in weiterer Folge aufmerksam entspannt zurücklehnen: Barazons Analysen bedurften keiner sonderlichen Führung.

"Kein Minister wusste, mit wem sein Land verbündet ist"

Den Einstieg in die Ausführungen machte Barazon mit einer historischen Parallele: Sei der Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit all seinen verheerenden Folgen im Jahr 1914 der selbst für die handelnden Minister undurchsichtigen Bündnispolitik der einzelnen Staaten geschuldet gewesen, könne man heute eine ähnlich komplizierte Struktur erkennen. Barazon verwies dabei auf den Vertrag von Lissabon (hier in der Vollversion), in dem auch die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (Abschnitt 2) der Europäischen Union geregelt ist und in allen Mitgliedsstaaten ratifiziert wurde. Damit ist er auch Teil der Österreichischen Bundesverfassung. Der Vertrag bringt in Artikel 42 etwa auch die Vereinbarkeit von NATO- und EU-Mitgliedschaft zum Ausdruck. "Dort können Sie nachlesen, dass die EU ihre Politik auf die NATO abstellt, das ist ja kein Geheimnis", erklärte Barazon. So könnten schon sechs der 28 Mitgliedsstaaten gemeinsam eine "militärische Union" bilden, müssten dazu die anderen Mitglieder lediglich über diesen Schritt informieren. Im Krisenfall greife bei den anderen allerdings die "Beistandspflicht" des Europäischen Vertragswerks, wie Barazon in Erinnerung ruft.

"Die Ukraine ist kein Staat wie jeder andere"

Die Ausrichtung hin zu EU und NATO spielte auch in der Ukraine Krise eine bedeutsame Rolle, wie der Publizist anschaulich anhand eines historischen Abrisses verdeutlichte.
In der Frage um die Besitzansprüche an der Krim dürfe vertraglich abgesicherte Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte nicht außer Acht gelassen werden:

"Die Krim ist in einer Sondersituation."

Dass das vorher über Jahre praktizierte Einvernehmen zwischen der Ukraine und der Russländischen Föderation "plötzlich nicht mehr funktionierte", lag an der Hinwendung der Ukraine zur nordatlantischen Bündnis, denn "mehrere tausend Kilometer Grenze zu einem NATO-Mitglied ist für Russland inakzeptabel", so Barazon. Hinzu kommt die besondere Rolle der Ukraine in der russischen Geschichte, die "Kiewer Rus" wird als erster russischer Staat verstanden und fand starken Eingang in die Gründungsmythen Osteuropas. Hohe Aristokratenfamilien im Zaristischen Russland leiten ihre Namen von Flüssen in der Ukraine ab. Barazon betonte auch die Sprache als Hinweisgeber darauf, dass für Russen die Ukraine nicht zum "Ausland" zählt.
Eine der Folgen der "Orangenen Revolution" von 2004 sei die "Plünderung des Landes durch Oligarchen" gewesen, so Barazon. "Dort war es vor 2004 schon Elend, aber danach noch schlimmer. Die Menschen wohnen in verfallenen Bauwerken aber sehen vor ihren Häusern die teuersten Limousinen vorbeiflitzen." Europas Unterstützung in einem "System notwendiger Korruption" habe nur in hoch verzinsten Krediten und Reformforderungen bestanden: "Wir sind mit unseren Banken gekommen und haben Kredite vergeben – mit 25 Prozent Zinsen! Eine Wirtschaftspartnerschaft für den Aufbau von Infrastruktur wäre das Wichtigste gewesen." Von solchen Investitionen hätte auch die europäische Wirtschaft stark profitieren können, ist der Experte sicher.

"Dass man einfach sagt: 'Ja pfui, der Russ' – so einfach geht es nicht!"

Eine ähnliche gewichtige Rolle spielen EU, NATO und Russland auch im aktuellen Syrien-Konflikt. Hier fehle es oft am Erkennen der Zusammenhänge, bemängelt Barazon. "Man muss sich fragen: 'Wer ist dieser Islamische Staat?' Es ist die Nachfolgebewegung der Partei Saddam Husseins, gespeist aus den Offizieren der alten Armee, um den sunnitischen Einfluss wieder zu stärken."

Einfluss im "fruchtbaren Halbmond"

Mit dem Fall des Saddam-Regimes konnte der Iran seine Einflusssphäre auf den Nachbarstaat ausweiten, stärkte die vorher unterdrückten Schiiten, die nach der US-Intervention große Teile der irakischen Regierung stellten.

"Die Besetzung so weiter Gebiete durch den IS ist nur möglich geworden, weil das geschulte Militärs waren, keine Rabauken die in der Gegend herumfahren. Der IS ist eine Bewegung gegen die Vorherrschaft des Iran."

Um die regionale Vorherrschaft im "fruchtbaren Halbmond" buhlen neben dem (schiitischen) Iran auch (das wahabitische Königreich) Saudi Arabien und die (sunnitische) Türkei, unterstützen mit Geld und Waffenlieferungen "ihre" jeweiligen Gruppierungen – bei durchaus wechselnden Allianzen – Der fruchtbare Halbmond wie das Ende der türkischen Unterstützung für den IS zeigt. Erdogans Staat ermöglichte der Terrormiliz beispielsweise den Zugang zum Ölhandel.
Barazon geht davon aus, dass mit der diskutierten saudisch-türkischen Gemeinschaftsintervention sowie dem koordinierten Eingreifen der USA und Russlands der IS "im Sinken begriffen" sei. Mit einem Syrien unter Assad und der Hisbollah im Libanon stiege der iranische Einfluss weiter, denn "wir haben alles weggeschossen, was den Iran gehindert hat, die Region zu beherrschen".
Der Experte warnt aber nicht nur vor einer "nächsten Runde" militärischer und terroristischer Aktionen, sondern auch vor einer moralischen Überheblichkeit Europas: "Wir haben alle gemordet in dieser, unserer Region. Zu köpfen war etwa in der französischen Revolution ganz hoch im Kurs, das sollte man nicht vergessen." "Das friedliche Europa" besteht erst seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

"Wir könnten jährlich 45 Milliarden investieren!"

Von den militärischen Krisenherden schwenkte barazon zum Abschluss des Referats zum Banken- und Finanzsektor. Er beschreibt den gesellschaftlichen Wandel, den Aufstieg und Fall von Imperien als "Sinuskurve der Geschichte". Diese zeige:

"In ihrer höchsten Blütephase beginnt die Gesellschaft aus Langeweile zu verrotten – immer!"

Schuld am aktuellen Schwächeln der europäischen Wirtschaft sei ein grobes Unverständnis diverser Entscheidungsträger von den Regeln der Banken und Märkte, so Barazon. "Europa finanziert sein System besonders mit Krediten, die USA stärker mit Beteiligungen. Basel 3 sichert Ihnen zu, dass wenn Sie keinen Kredit brauchen, einen bekommen", attestiert der Wirtschaftsjournalist. Damit könnten keine Wachstumsimpulse gesetzt werden, was in einer Umbruchphase aber enorm wichtig wäre. So sei diese Regulation "ein Unsinn", gehe an den eigentlich problematischen Faktoren, etwa Offshore-Finanzgeschäfte und Spekulationen, krass vorbei.

"Wir müssen die neue Welt kapieren, die gerade ausgebrochen ist! Technologie, Arbeitsmarkt, Gesellschaft ... das ist eine totale Neuerung!"

Er wundert sich über fehlende Kritik von Seiten der Unternehmer und Industriellen, es fehle "der Aufschrei, die Revolution" gegen diese Regulatorien.
Neben der Geld- und Zinspolitik der Europäischen Zentralbank sei auch die österreichische Steuerbelastung mitverantwortlich für das schwache Wachstum: "Wenn wir statt 52 Prozent nur 30 bis 40 Prozent Steuerbelastung hätten, könnten wir in Österreich Jahr für Jahr bis zu 45 Milliarden Euro in die Zukunft investieren! Stattdessen verbrennen wir das Geld in alten Strukturen."
Besonders auf dem Bildungssektor machen sich die staatlichen Verschlankungs- und Sparprogramme bemerkbar. Barazon fordert ein Umdenken:

"Wir brauchen ein Bekenntnis zu mehr Bildung in allen Formen ein Bekenntnis zu mehr Können, egal ob Altgriechisch oder Technik, wir müssen Flexibilität im Denken fördern!"

Neben der herbeigeführten Stagnation der heimischen Bildungslandschaft verhalte sich Österreich, wie die EU, auch in der Flüchtlingsfrage "nur dumm". Eine Integration der syrischen bürgerlichen Mittelschicht, die aktuell einen Großteil der Fluchtbewegung aus dem Nahen Osten darstellt, wäre in Hinblick auf qualifizierte Fachkräfte und das sinkende Bevölkerungswachstum Mitteleuropas ein fruchtbarer Weg, so Barazon. "Bei der Überalterung unserer Gesellschaft wäre eine Aufnahme dieser Menschen nicht so blöde, aber wir wollen ja nicht gestört werden", stellt der Analyst fest, "dabei könnten wir sie alle unterbringen und haben tausende aktiver Pensionisten, die Zeit hätten sie zu betreuen." Gehemmt werde dies einerseits durch bundespolitische Entscheidungen, wie die Vorschriften für mögliche Quartiere, und die Unfähigkeit der Union und ihrer Mitglieder zur Maßnahmenfindung, was die Registration von Flüchtlingen und das Schengener Abkommen angehe.

Spannender Vortragsabend mit Diskussion

Die rund 50 Interessierten, darunter nicht nur alte wie junge "Cimbern", sondern etwa auch Bürgermeister Martin Krumschnabel, der gemeinsam mit seiner Gattin, der Landtagsabgeordneten Andrea Krumschnabel, und Sohn Niklas die Ausführungen Barazons verfolgte, oder Euregio-Inntal Vizepräsident Walter J. Mayr, erlebten ein launiges und spannendes Referat von Ronald Barazon, der sich nach seinen Ausführungen noch den Fragen und Diskussionsbeiträgen der Zuhörer stellte. Dort spannte sich der Bogen von der aktuellen Flüchtlingsproblematik in der EU über die Großmachtsphantasien der Türkei bis hin zur Null-Zins-Polizik der Europäischen Zentralbank.

Mehr Informationen zu den Publikationen von Ronald Barazon finden Sie auf seiner Website.

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