Eine der Jahrhundert-Frauen

Elisabeth Riederer, würdevolle Frau, Hauswirtschafterin, Ehefrau, Küsterin, Köchin, Putzfrau, Oma, Zuhörende, Beterin, Suchende, Glaubende, Zweifelnde, Fragende, Dankende, Bittende, Helfende und Hilfsbedürftige - meine Mutter! | Foto: Christel Borisch
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  • Elisabeth Riederer, würdevolle Frau, Hauswirtschafterin, Ehefrau, Küsterin, Köchin, Putzfrau, Oma, Zuhörende, Beterin, Suchende, Glaubende, Zweifelnde, Fragende, Dankende, Bittende, Helfende und Hilfsbedürftige - meine Mutter!
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Gedanken am Geburtstag meiner Mutter ---

Mutter gehört zu der Generation, die der letzte Krieg noch voll erwischt hat. Erwischt deswegen, weil sie, wie viele, so gar nichts dafür konnte und – obwohl mit deutscher Staatsbürgerschaft ausgestattet – einfach nur zu den Opfern zählt. Mutter war 10 Jahre alt als der Krieg endlich mit der bedingungslosen Kapitulation endete. Für Mutter war damit noch lange nichts fertig. Sie war mit ihrer Familie auf der Flucht. Bereits das zweite Mal. Mutter gehörte zu jener volksdeutschen Gruppe in der Slowakei, die von den Nazis vor der Roten Armee in Altersgruppen und auf Viehwaggons abtransportiert wurde. Da war Mutter neun Jahre alt. In diesem einen Lebensjahr – zwischen 1944 und 45 – liegt das ganze Trauma der Aufbau-Generation, der Wirtschaftswunder-Menschen begraben. Die Leiden dieser Tage wurden nicht an die große Glocke gehängt. Die gehörte den Alliierten und gewiss bis zu einem gewissen Grad zu recht den Russen an erster Stelle. 27 Millionen Sowjetbürger haben ihr Leben gelassen im zweiten Weltkrieg – 13 Millionen Soldaten und 14 Millionen Zivilisten.

Eine verlorene Kindheit

Mutter hat auch Leben verloren in diesem einen Jahr am Ende des Krieges als fast 14 Millionen Deutsche zu Flüchtlingen wurden – im Viehwaggon, als man sie nach Altersstufen abtransportierte, im Lager als man ihr die verlausten Zöpfe abschnitt und den kahlgeschorenen Kopf mit Petroleum einrieb, auf den langen Fußmärschen, auf dem blanken Zementboden auf dem sie im Lager schlief und beim Essen der Kartoffelschalen und Brotkrusten. Während die Verantwortlichen dieser Herrenrasse es sich in den Monaten vor dem Untergang gut gehen ließen, musste die Nachfolgegeneration darben und zuschauen, wie die ihnen zugedachten Rationen in den Reihen der Betreuer verschwanden.
Gott sei Dank hatten die großen Schwestern meiner Mutter, die zu Diensten im Konzentrationslager Theresienstadt genötigt unter abenteuerlichen Umständen die Flucht wagten, diese Schwestern hatten sich dem Ziel verschrieben, die ganze Familie wieder zusammen zu suchen.
Das Unternehmen gelang. Nachdem einer der letzten großen Bombenangriffe auf Leipzig sich meiner Mutter unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt hatte – „nie werde ich die Flammen und die Schreie der sterbenden Menschen vergessen“ – wurde der Heimweg in die Slowakei angetreten.
Im Heimatdorf angekommen, musste die Flüchtlingsfamilie feststellen, dass Slowaken das Dorf übernommen und auch ihr Haus besetzt hatten.
Mit Schimpf und Schande, beschimpft, getreten und bespuckt ging es auf die Reise zurück ins verlorene Deutschland. Aus dem Flüchtlingslager wurden sie nach Reinheim zugeteilt. Der Nachkriegsalltag begann.

Die Jahre nach dem Krieg

Mutter war eine gute Schülerin. Gern wäre sie selbst Lehrerin geworden.
Die finanziellen Umstände der Familie und die unmittelbare Situation der 50er-Jahre ließen die weiterführende Schule und ein Studium schon gar nicht zu. Mutter durfte auf Intervention einer weisen Pädagogin wenigstens die Hauswirtschaftsschule absolvieren und begeistert die Ausbildung zur Hauswirtschafterin machen.
Die ersten großen und glücklichen Jahre erlebte sie auf Hof Illbach, wo sie unter besonderer Patronanz von Baronin von Willich die Liebe zu Literatur und Kultur entdeckte. Widrige Umstände führten dazu, dass Mutter dieses erste richtige Daheim hinter sich lassen und nach Konradsdorf ins Haus der Pächter einer Staatsdomäne überwechselte.
Dort auf dieser Staatsdomäne – einem ehemaligen Prämonstratenserinnenkloster, das der Reformation zum Opfer gefallen und in staatlichen Besitz übergegangen war – lernte sie Walter ihren Mann kennen.

Glückliche Jahre mit schwerem Beginn

1957 war Hochzeit – im April standesamtlich und Ende August kirchlich. Das erste gemeinsame Kind erstickte während der Geburt. Vater musste das Kind allein begraben. Mutter lag längere Zeit im Krankenhaus um sich von den Folgen der inneren Vergiftung und dem seelischen Einbruch zu erholen.
Im Dezember 1959 kam ich zur Welt und im Juli 1963 mein Bruder Uwe.
Die Arbeit in der Landwirtschaft war sehr anstrengend und äußerst schlecht bezahlt. Im Sommer 1965 bot sich für meine Eltern die Gelegenheit zur Arbeit in Reinheim verbunden mit einer Betriebswohnung in der Hügelstraße. Wir lebten unter sehr einfachen Bedingungen, in trautem Miteinander mit Gastarbeitern aus Italien. Mutter nahm Gelegenheitsjobs als Putzfrau an. Der beste war der im Café Rettig, da brachte sie manchmal übrige Stückchen mit nachhause.
Ab 1965 ging ich zur Schule. Ein neues, aufregendes Kapitel für die ganze Familie.
1968 war meine Erstkommunion und ab diesem Zeitpunkt begann unser gemeinsames Engagement in der Kirche. Mutter hatte uns Kindern das Beten gelehrt. Große Kirchgänger waren wir in den Konradsdorfer Jahren nicht, da die Kirche weit entfernt und der Alltag in der Landwirtschaft auch Sonntage einforderte. Mit meiner Entscheidung Ministrant werden zu wollen, war die Forderung meiner Eltern verbunden: „Wenn man etwas macht, macht man es richtig oder lässt es gleich!“
Verantwortung und Wahrhaftigkeit waren zwei große Themen in unserer Erziehung und im Leben unserer Familie. Mit großem Interesse begleiteten Mutter und Vater unseren Weg und gingen ihn mit.

Die Geschichte mit der Kirche und der Neubeginn

Aus dem regelmäßigen Kirchenbesuch erwuchs bei meinem Vater das Abholen der weiter entfernten, älteren Gläubigen mit dem Pfarrbus: „Schäfchensammler“ hieß das vom Bonifatiuswerk gestellte VW-Bus-chen in der Pfarrei Reinheim. Mutter ging zu allen Gottesdiensten mit, wurde Mitglied der Frauengemeinschaft und half immer wieder im Pfarrhaus als Köchin und Putzhilfe aus.
Schließlich übernahm sie den umfangreichen Dienst einer Küsterin, den sie fast dreieinhalb Jahrzehnte unter Mithilfe meines Vaters und zeitweise der ganzen Familie mit Freude ausübte.
Das kirchliche Anerkennungsgeld dieser Jahre war immer eine kleine Grundlage für die Fahrt nach Österreich.
1970 kam unser jüngster Bruder Ralf zur Welt. Obwohl die Schwangerschaften und besonders die Geburten für meine Mutter Torturen waren und trotz des eindeutigen Angebotes des Frauenarztes,
das Kind wegzumachen, wagten meine Eltern diese Schwangerschaft und hatten den Mut zu einem dritten Kind. Sie haben es nie bereut!
Nach der ersten großen Ölkrise – am Beginn der siebziger Jahre – ging der Betrieb in dem mein Vater arbeitete in Konkurs. Über Nacht war Vater arbeitslos. In großer Stärke und mit dem Willen zur Arbeit ging mein Vater – unterstützt von meiner Mutter Tag für Tag Klinken putzen, nach Arbeit fragend. Vater hatte noch weniger zur Schule gehen dürfen als Mutter. 14 Kinder in der väterlichen Familie, davon „nur“ vier männlich, da musste schon in Kindheitstagen fest mit gearbeitet werden.
Die großen Begabungen im technischen Bereich, Vaters Hausverstand und seine Zuverlässigkeit und sein Fleiß glichen den Makel der fehlenden Ausbildung leicht aus – wenn auch nicht in der Bezahlung.
Vater fand nach vier Wochen einen neuen Job in der Firma Merck. Fortan musste er mit hochgiftigen Stoffen arbeiten. Eine Tatsache, die er auch gesundheitlich immer wieder zu spüren bekam.
Durch die Schichtarbeit im Chemiebetrieb wurde das Einkommen meiner Eltern aufgebessert. Uwe und ich machten Abitur. Ich wurde katholischer Priester, Uwe Betriebsberater. Mein jüngster Bruder machte eine kaufmännische Lehre und ist heute ebenfalls in verantwortlicher Position.
Wir sind unseren Eltern dankbar.

Jahre im Verborgenen – eine große Frau

Mutter hat über die Jahrzehnte die Last der Kindheitsjahre in körperliche Leiden übersetzt.
Viele Krankenhausaufenthalte, Operationen und REHA-Aufenthalte haben sie geprägt. Und doch ist sie darüber geduldig und weise und auch alt geworden. Die Begleitung des eigenen Mannes, meines geschätzten und humorvollen Vaters durch die schwere Krebserkrankung hinein ins Sterben, der Wechsel aus der Freiheit der eigenen Wohnung in den geordneten Ablauf eines Senioren- Wohn- und Pflegeheimes und die lebendige Auseinandersetzung mit einem neuen Kapitel ihrer Lebensgeschichte nach dem Tod meines Vaters machen meine Mutter bewundernswert.
Mit meinen Brüdern zusammen bin ich stolz eine solche Mutter zu haben und gratuliere ihr zum 82sten Geburtstag, im 60sten Jahr ihrer Ehegelübde, ihrem zweiten Jahr als Witwe und am Ende des dritten, starken Jahres in der AWO+ -Senioren-Wohnanlage. DANKE für all Dein Gut-Sein!

Elisabeth Riederer, würdevolle Frau, Hauswirtschafterin, Ehefrau, Küsterin, Köchin, Putzfrau, Oma, Zuhörende, Beterin, Suchende, Glaubende, Zweifelnde, Fragende, Dankende, Bittende, Helfende und Hilfsbedürftige - meine Mutter! | Foto: Christel Borisch
Elisabeth Riederer, Jahrgang 1935 | Foto: Christel Borisch, AWO+ Senioren-Wohnanlage
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