Mensch Award für Gerasdorf - Video
Ein weißes Tischtuch, Kakao und Butterstriezel
GERASDORF. Im Leben kommt es manchmal auf die kleinen Dinge an. Kann man die Großen nicht ändern, so zählt die Geste. Anna Seidl aus Gerasdorf war sich dessen bewusst. Sie konnte das Leid oder gar das Schicksal, der in das Judenlager Verschleppten, nicht ändern. Aber sie konnte einer Familie zumindest für einen Tag Menschenwürde zurückgeben. Mit einem weißen Tischtuch, Kakao und Butterstritzel.
Das Lager Gerasdorf
Im Frühling 1944 führte die kriegsbedingte Knappheit an Arbeitskräften 15.000 der mehr als 430.000 ungarischen Juden nach Strasshof an der Nordbahn (Bezirk Gänserndorf). Von diesem Durchgangslager wurden die Verschleppten auf verschiedene Lager in den Gauen Groß-Wien und Niederdonau aufgeteilt, wo sie zur Zwangsarbeit in Fabriken aber auch landwirtschaftlichen Betrieben geschickt wurden.
Eines dieser Lager befand sich in Gerasdorf. 281 Menschen (106 Männer, 134 Frauen und 41 Kinder) waren in zwei Holzbaracken, in denen auf der rohen Erde Stockbetten standen, untergebracht. Die Verwaltung des Lagers oblag dem örtlichen Ortsbauernrat, der bereits Erfahrungen mit slawischen Zwangsarbeitern hatte. Im Gegensatz zu den Südosteuropäern waren die jüdischen Arbeitskräfte aber nicht auf den Höfen untergebracht.
Menschenwürde
Eine im Lager Gerasdorf internierte Familie waren die Braun-Benedeks – zwei Großmütter, die zwei Kinder Pal und Istvan, sowie der "Kapitän", die Mutter Rózsa Braun. Ein Arbeitseinsatz führte sie zum Herbstputz in das Haus der Bäckersfamilie Seidl. Über Gespräche fand man bald gemeinsame Bekannte. Anna Seidl forderte Rózsa Braun ein weiteres mal an; auch die Kinder sollten zum Arbeitseinsatz kommen. Doch statt harte Arbeit erwartete die ausgehungerte Familie ein festlich gedeckter Tisch mit Butterstriezel und Kakao für die Kinder. Außerdem packte Anna Seidl warme Kleidung für die Braun-Benedeks zusammen, die nur mit Sommersachen ins Lager gekommen waren. István Gábor Bedendek erinnert sich: "Ich hatte nichts, nur eine kurze Hose mit Hosenträgern, aber bekam einen Pelzmantel. Das war der alte Mantel ihrer Kinder, in einem Pelzmantel, in einem weißen Pelzmäntelchen kam ich in Bergen-Belsen an."
Mensch-Award
Eben dieser István Gábor Benedek kam nun ein weiteres Mal noch Gerasdorf um Anna Seidl posthum seinen Dank auszudrücken. Sie wurde mit dem "Mensch Award" geehrt. Steve Geiger von der „MENSCH International Foundation“ würdigte damit die kleine Geste, in menschenunwürdigen Zeiten.
Erstmals wurde auch eine ganze Stadt – Gerasdorf – für ihr Verhalten in den letzten Kriegsmonaten gegenüber den jüdischen Deportierten geehrt. Für ihre Bemühungen, die Geschichte Gerasdorfs und der ungarischen Juden sichtbar zu machen, bekamen auch Bürgermeister Alexander Vojta und der damalige Vizebürgermeister und jetzige EU-Abgeordnete Lukas Mandl einen Award. Letzterer verwies in seiner Dankesrede auf den ehrenamtlichen Einsatz Othmar Scheiders, der sich der Expertengruppe mit seinem Wissen über lokale Begebenheiten anbot. Auch ihm wird nachträglich ein Mensch-Award zuteil.
Zu dem Festakt im Gerasdorfer Rathaus kamen zahlreiche Gemeindepolitiker, sowie der Bürgermeister von Tótkomlós Zoltán Zsura, jener Stadt von der aus István Gábor Bendek deportiert wurde. Der Wiener Oberrabbiner Jaron Engelmayer sprach über Zivilcourage; Rabbi István Darvas erinnerte an das Gebot "Niemals wieder". Auch die US-amerikanische Kulturattaché Erin Robertson sprach in Vertretung der Botschafterin Victoria Kennedy, ebenso wie der ungarische Botschafter in Wien Andor Nagy, der seine diplomatische Karriere in Israel begann.
ZUR SACHE
Am 17. Juni 2016 wurde ein Gedenkstein, der an das Lager erinnert, neben dem Gerasdorfer Bahnhof feierlich enthüllt.
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