Ur europäisch: Unter Eigenbrötlern im hohen Norden
Auch "Ur europäisch" geht im Sommer auf Reisen. Statt um Europäer in Wien geht es diesmal um einen Wiener in Europa. Genauer gesagt, in Schottland. Also quasi einen Wiener in “Noch-Europa”.
Eineinhalb Monate nach dem Brexit-Votum der britischen Bevölkerung herrscht in Edinburgh Ausnahmezustand. Diesmal im positiven Sinne. Denn, was die schottische Hauptstadt zu “dem absolut besten Ort im August” macht, wie eine Bekannte meinte, sind zwei riesige Theaterfestivals, die jede Bar, jede Bühne und jeden Hinterhof in Beschlag nehmen. Das “International Festival” ist “ein bisschen wie die Salzburger Festspiele” erklärt Mathias Thaler, Professor für politische Philosophie an der Universität Edinburgh. Der eher informelle Bruder dazu ist das “Fringe Festival”, das jedem eine Bühne biete, der diese bespielen will. Mit an die 3500 Shows in einem Monat ist es das größte Kulturfestival weltweit.
Positive Ablenkung kann im Moment nicht schaden. Denn in der kosmopolitischen Hauptstadt Schottlands hatten 74,4% beim Referendum für den Verbleib in der EU gestimmt und müssen nun mit den Konsequenzen leben, die ihnen vor allem die englischen Wähler beschert haben. Was zu der ohnehin angespannten Beziehung zwischen Schottland und England beiträgt, wie Thaler meint. Man erfährt, was er meint, wenn einem beim Versuch, im Norden des Königreichs ein “english breakfast” zu bestellen, die Antwort entgegen schmettert: “We haven’t got anything English here.”
Schottland nach dem Brexit
Thaler ist gebürtiger Wiener und seit vier Jahren in Schottland. Die Zukunft Schottlands ist so wie die Großbritanniens nun ungewiss. 2014 gab es in Schottland ein Referendum über die Abspaltung vom Vereinigten Königreich. Im Vergleich zum “Brexit-Referendum” konnten damals auch EU-Bürger in Schottland wählen - und dazu beitragen, dass das Land in Großbritannien blieb. Thaler ist sicher, dass bald eine weitere Abstimmung folgen wird. Sollten die gleichen Bedingungen gelten, würde das diesmal eher zu einer Abspaltung führen. Denn als unabhängiges Land könne Schottland der EU wieder beitreten. Im Moment sei “alles ein bisschen in der Luft - aber das ist eben Politik!”
Wichtig finde Thaler, jetzt Mittel zu finden mit dem immer stärker werdenden Populismus umzugehen. Das sieht er auch als seine Aufgabe: “Die Universität ist dazu da, um Fragen zu stellen, alternative Visionen aufzuzeigen und produktive Gespräche auszulösen. Sie ist nicht diejenige, die Antworten bietet.”
Einen Grund, Schottland zu verlassen, sehe er zurzeit nicht. Ihm gefällt es hier - vor allem dank der Wärme der Menschen. Selbst das regnerische Wetter stört ihn nicht. Ihm gefallen die vier Jahreszeiten - jeden Tag. Grinsend zitiert er das Sprichwort: “Wenn dir das Wetter in Schottland nicht gefällt, warte fünf Minuten. Dann wechselt es.” Mit der politischen Situation wird man da wohl einen etwas längeren Atem brauchen, bis Schottland aus der Schockstarre erwacht und sich etwas bewegt.
Nachgefragt:
Einzigartiges Schottland:
Einzigartig ist “Haggis”, das schottische Nationalgericht. Das schmeckt wie ein Mischmasch aus Fleischresten, die weggeworfen werden sollten. Aber es gibt wohl in jeder Kultur ein Gericht, das Zugereiste nicht essen. Bei uns wären das wohl Käsekrainer.
Heimweh:
Was mir fehlt ist der Schmäh. Der funktioniert hier einfach anders. Englischer Humor ist trockener, sie haben mehr Selbstironie. In Österreich geht es da eine Spur aggressiver zu.
Typisch Wienerisch:
Das Wort, das Wien wohl am besten beschreibt, ist “Grant”.
Typisch Schottisch:
Eines der typischsten Worte hier ist “drizzle”, also Nieselregen.
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