13. August 1961 - 2016

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Am Sonnabend vor genau 55 Jahren begann man damit, die Berliner Mauer zu errichten. Daher eine kleine Schilderung. wie ich damals mit 13  Jahren ihre Öffnung erlebte.
Text: Christoph Altrogge. Zeichnungen: Maxi Herta Altrogge.

Ich machte einen Moment Pause, bevor ich die letzte Hausaufgabe für den nächsten Tag begann. Als ich mich von meinem Platz erhob, um dafür das Physikbuch und das Physikheft aus dem Regal zu holen, sah ich per Zufall vom Fenster aus, wie Nachbarin Anne Paul von schräg gegenüber eiligen Schrittes die Straße überquerte. Sie lief nicht, sie rannte, sofern das bei ihren Körpermassen möglich war. "Frau Müller, die Grenze ist offen!" rief sie bereits von der Mitte der Straße aus Großmutter zu, die noch irgendetwas im Vorgarten arbeitete. Dann beobachtete ich, wie sie an den Gartenzaun trat und Großmutter wild gestikulierend etwas erzählte, das ich akustisch nicht verstand.
Wer weiß, was das wieder für eine Ente ist, dachte ich. Natürlich, die Grenze ist offen. Und außerdem ist im Garten hinterm Haus ein UFO gelandet, weil die kleinen, grünen Männchen auf der Milchstraße falsch abgebogen sind und sich jetzt nach dem Weg erkundigen wollen. Politische Umbruchszeiten scheinen ja der ideale Nährboden für Gerüchte und Falschmeldungen zu sein. Ich erinnerte mich, wie Großmutter vor ein paar Tagen erzählt hatte, dass es kurz vor Ende des Krieges und in der Zeit danach genau dasselbe war.
Als ich der Neugier halber ein zweites Mal aus dem Fenster sah, debattierten die beiden immer noch miteinander. Ich bekam nun auch ein paar Satzfetzen mit. Sie handelten von einer Pressekonferenz, während deren Verlauf überhaupt nichts Neues herausgekommen wäre, die jedoch mit einer Riesensensation geendet hätte.
"So, 'ch wille ma wedder newergehe", meinte Frau Paul schließlich. "Vielleicht bringen die ja noch ärchendwas. 'ch ka 's je selwer noch näch ganz gloowe. Also, machen ses gut!"

Kurz vor um Acht saßen wir bei Großmutter in der Stube, wo im Fernsehen der ARD lief. Wie üblich beim Fernsehen Großmutter auf dem Sofa, Mutter im Sessel unter dem Fenster und ich in Großvaters altem Sessel.
Auf dem Bildschirm erschien die Fernsehuhr, welche die letzten Sekunden bis zur vollen Stunde abzählte. Gongschlag. Der Schriftzug "Tagesschau" vor der Weltkarte im Hintergrund erschien. "Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau."
Es folgte die Signation. Gleich als Erstes kam ein Beitrag über eine Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in der Ost-Berliner Mohrenstraße. Exakt um 18:53 Uhr soll es eine Meldung über die sofortige Öffnung der Grenzen zur Bundesrepublik und West-Berlin gegeben haben, welche um 18:57 Uhr erstmals vom DDR-Fernsehen übertragen wurde.
Der entsprechende Beitrag wurde eingespielt. Kurz vor Schluss der bis dahin laut Meldung unspektakulären Pressekonferenz bringt der Vertreter der italienischen Nachrichtenagentur ANSA, Riccardo Ehrmann, das Thema Reisegesetzgebung auf.
Schwenk der Kamera auf Schabowski, welcher in der Mitte eines Präsidiumstischs zu sehen war. "Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen", verkündete er, "heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen."
Das ist doch nicht wahr, dachte ich.
Frage eines Journalisten: "Ab wann tritt das in Kraft?"
Schabowski: "Bitte?"
Frage: "Ab sofort?"
Schabowski: "Also, Genossen, mir ist das hier also mitgeteilt worden" – er setzte seine Brille auf, blätterte in seinen Unterlagen und zog einen Zettel hervor – "dass eine solche Mitteilung heute schon verbreitet worden ist. Sie müsste eigentlich in Ihrem Besitz sein. Also:
'Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der VPKÄ – der Volkspolizei-Kreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dabei noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen. Damit entfällt die vorübergehend ermöglichte Erteilung von entsprechenden Genehmigungen in Auslandsvertretungen der DDR bzw. die ständige Ausreise mit dem Personalausweis der DDR über Drittstaaten.'
Die Passfrage kann ich jetzt nicht beantworten. Das ist auch eine technische Frage. Ich weiß ja nicht, die Pässe müssen ja, ... also damit jeder im Besitz eines Passes ist, überhaupt erst mal ausgegeben werden. Wir wollten aber ..."
Ein anderes Mitglied des Präsidiums fiel ihm unverständlich ins Wort.
Frage: "Wann tritt das in Kraft?"
Schabowski blätterte laut raschelnd und sichtlich nervös in seinen Papieren. "Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich", stammelte er. Danach blätterte er wieder in seinen Unterlagen.
Im Saal entstand ein leiser Tumult. Eine neue Frage tauchte auf: "Sie haben nur BRD gesagt, gilt das auch für West-Berlin?"
Schabowski nahm wieder das Blatt zur Hand "Wie die Presseabteilung des Ministeriums ..., hat der Ministerrat beschlossen, dass bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen Regelung durch die Volkskammer diese Übergangsregelung in Kraft gesetzt wird", teilte er mit.
Frage aus dem Podium: "Gilt das auch für West-Berlin?"
Schabowski zuckte mit den Schultern, sah wieder in seine Papiere: "Also, ..., doch, doch: 'Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West erfolgen.'"

Die Nachrichtensendung, welche sich nur mit dem einen Thema beschäftigt hatte, war vorüber. Ich stand auf und schaltete den Fernseher aus. "Na, dürfen wir denn da jetzt einfach so in den Westen?" stellte Großmutter anschließend eine Frage, auf die sie vermutlich keine Antwort erwartete.

"Wie war das damals eigentlich an jenem legendären 13. August 1961?" fragte ich Mutter, als wir wieder unten in der Küche waren.
"Es war ein Sonntag wie jeder andere. August, Sommer, Ferien. Ich hatte das Abitur gut bestanden und genoss die Ferien in vollen Zügen. Frei von allem Prüfungsdruck, frei von dem Schulstress. Wir waren in der Küche. Opa, Oma und ich hatten gemeinsam gefrühstückt und räumten nun alles weg. Später Vormittag. Das Radio lief nebenbei, sonntägliche Sendungen mit musikalischen Ohrwürmern für jedermann, Rudolf Schock, Willi Schneider, 'Glocken läuten, Sonntag ist ...', ein Lied, das jeden Sonntag die gleiche Stimmung herüberbrachte. Hessischer Rundfunk, Norddeutscher Rundfunk, unsere 'Haus-Sender', die wir täglich hörten, die wir liebten und wegen der realistischen Berichterstattung sehr schätzten. Gongschlag. 'Sie hören die Nachrichten.' Mich interessierten sie nicht sonderlich – ich war in Ferienstimmung und in Sonntagslaune! 'Berlin. In Ost-Berlin hat man heute Morgen begonnen, an der Zonengrenze eine Mauer zu setzen. ...'
Ich hörte es ... und begriff nicht, sah ratlos Oma und Opa an. Ich stand neben dem Radio, stellte das Geschirr ab, wagte kaum zu atmen, hörte zu. Auch Oma und Opa standen wie versteinert in der Küche. Detailliert berichtete der Nachrichtensprecher über den Fortgang des Mauerbaues.
Themawechsel im Radio. Wir hörten nichts, standen wie erstarrt und sahen uns wortlos an. 'Eine Mauer durch Berlin?' brachte ich heraus.
Oma kamen die Tränen: 'Die können uns doch nicht einmauern! Walter, sag' du doch was!'
'Ach, es wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird', meinte Opa in seiner legendären Ruhe. Aber dann zog es ihn doch in den Garten, und er hielt nach dem Nachbar Wilhelm Ausschau. Er hatte gerade die Schweine und die Hühner gefüttert und kam sofort an den Gartenzaun, als er uns sah, denn wir waren Opa gefolgt. 'Wilhelm, hast du das von Berlin gehört???'
'Jo, Wolder, ich haas noch gar nech glowe genne! Enne Mauer! Das lassn de Amis nech zu! Do kaste dich droff verlasse!' schimpfte er in seinem eigentümlichen Dialekt.
'Und wenn die Russen schießen?' warf Oma aufgeregt ein.
'Och was, de Amis lassn das nech zu!' beteuerte Nachbar Wilhelm."
"War Onkel Bernd damals nicht auch dabei?" warf ich eine Zwischenfrage auf.
"Ja, deswegen haben wir uns auch große Sorgen gemacht. Wir debattierten dann noch lange am Gartenzaun. Dann packte Oma wieder die Angst: 'Alle Kampfgruppen sind auch dabei! Wenn Bernd ...' Sie schloss den Satz nicht ab, ging ins Haus. Onkel Bernd lebte damals schon mit Tante Ilse in Berlin und gehörte der Kampfgruppe an. Erst am späten Abend brachte Frau Sönecke, es war eine Nachbarin, die damals in der Straße wohnte und als eine von ganz wenigen schon Telefon hatte, die relativ befreiende Nachricht: 'Bernd ist zwar mit dabei, ist auch bewaffnet, aber die müssen nur den Fortgang der Bauarbeiten schützen.'
'Das können die doch nicht machen!' und 'Das lassen die Amis nicht zu!' waren die Sätze, die wir, jeder von uns, in unregelmäßigen Abständen wiederholten. Am späten Abend brachte uns Frau Sönecke dann noch einmal eine Nachricht: 'Schumanns aus der Schillerstraße sind heute Nachmittag 'in Urlaub an die Ostsee' gefahren, mit allen vier Kindern', und sie blinzelte dabei vielsagend. Nun bangten wir alle, dass ihnen die Flucht nach dem Westen noch gelingen möge."
Mutter hatte knapp aufgehört zu erzählen, da klingelte das Haustelefon. Ich lief hin und nahm den Hörer ab. "Schnell! Kommt rauf zum Fernsehen!" schrie Großmutter. "Ihr ahnt ja gar nicht, was in Berlin los ist!"
Wir ließen alles stehen und liegen, warfen die Tür hinter uns zu und eilten die Treppe hinauf.

Einige Stunden später. Berlin war nicht mehr wiederzuerkennen. Leute sangen auf den Straßen: "So ein Tag, so wunderschön wie heute ..." Sekt schoss aus unzähligen Flaschen, hinterließ sprudelnde Fontänen. Unzählige Feuer spritzende Wunderkerzen erleuchteten die Nacht.
Die Kamera schaltete zum Grenzübergang Bornholmer Straße. Wieder passierte ein Trabbi die Kontrollstelle. Ein Westdeutscher sprang auf die Kühlerhaube und fuhr im Schneidersitz als eine Art lebende Kühlerfigur wenige Meter darauf mit.
Ihm folgte ein weiterer Trabant-Fahrer. Er fragte aus dem Autofenster heraus einen West-Berliner Zollbeamten etwas ungläubig: "Bin ich wirklich im Westen?"
Das Bild wechselte. Eine Frau auf dem Platz vor dem Reichstagsgebäude, die offensichtlich von dem Reporter zuvor gefragt wurde, ob sie im Westen bleibt, sagte: "Ich gehe auf jeden Fall zurück, weil ich an dieses Land glaube und ich will es einfach bloß sehen, die wunderbare Stimmung hier und diese Stadt, die ich all diese Jahre vermisst habe."
Eine andere Frau brach in Tränen aus: "Die ganzen Demütigungen der Jahre, alles ist vorbei. Wir haben uns nun wiedergefunden."
Ein Mann stammelte völlig kopflos: "Ich habe davon gehört, bin ins Auto gestiegen, hierhergefahren, ..." Weiter kam er nicht.
"Ich glaub, ich träume, das kann doch alles nicht wahr sein", brach es aus einer Frau Mitte Zwanzig völlig atemlos vor der Kamera heraus.
"Wahnsinn, Waaaahnsinn!!!" brüllten ein paar Leute in das Objektiv hinein.
"28 Jahre – det is die Stunde!" rief ein junger Mann die Existenzdauer des Bauwerkes in Gedächtnis.
"Auf einmal waren wir auf dem Ku'damm, keine Ahnung, wie wir da hingekommen sind. Es war wie im Film, wir konnten es gar nicht fassen", erzählte eine Frau Mitte Dreißig, die mit ihrem Ehemann da war. Und nach einem kurzen Moment des Schweigens: "Unsere kleinen Kinder sind noch drüben. Wenn die jetzt die Grenzstellen wieder schließen, dann sehen wir sie nie wieder."
Die Frau hat Unrecht, ging es mir in diesem Moment durch den Kopf. Was da passiert ist, kann keine Regierung und keine Stasi mehr rückgängig machen.
Die Kamera schaltete wieder auf den Platz vor dem Reichstagsgebäude um. "Was haben Sie heute Abend denn schon alles gemacht?" sprach der Reporter ein Ehepaar an.
Die Frau antwortete: "Anderthalb Stunden sind wir in West-Berlin gewesen. Wir sind mit vielen Hinweisen zum Ku'damm gefahren und bis zur Gedächtniskirche gelaufen. Dann haben wir uns am Kranzler Eck umgesehen, wie die Stimmung so ist. Es hat uns phantastisch gefallen!"
"Und werden Sie auch wieder in die DDR zurückkehren?" fragte dann der Journalist.
"Ja, natürlich. Unsere Kinder warten zu Hause. Aber erstmal schauen wir uns Berlin an."
"Waaaahnsinn!!! Waaaaaahnsinn!!!"
"Wir hatten drüben erst ein paar Probleme gehabt. Sie wollten das Tor vor Mitternacht nicht aufmachen. Einige Tausend warteten. Die ersten mussten Zählkarten ausfüllen, die nächsten bekamen noch einen Stempel in den Personalausweis, die übrigen wurden nur noch durchgewunken. Es gab überhaupt keine Kontrollen mehr", schilderte der Mann von einem Ehepaar um die Fünfzig den Verlauf der Grenzöffnung.
Ein Taxi-Fahrer, der der Automarke nach auch aus der DDR zu kommen schien, erzählte aus seinem Fahrzeug heraus: "Iwa Funk hab ick jehört, dass man an der Bornholmer Straße und der Sonnenallee riwakommt. Der Grenzer hat einfach einen Stempel in den Ausweis gemacht. Dann hab ick jefragt: Darf ick denn ooch wieda zurück? Na wenn Se möchten, hat er jesagt." "Mensch, ick gloob, ick spinne!" rief jemand, der nur ganz kurz im Bild war.
"So was habe ich noch nicht erlebt!" hielt die Kamera ebenfalls nur ganz kurz ein weiteres Statement fest.
Wieder hörte man: "So ein Tag, so wunderschön wie heute …"
Ein älterer Mann brach vor der Kamera in Tränen aus: "Ich habe gesehen, wie die Mauer gebaut worden ist – und jetzt erlebe ich, wie sie wieder abgerissen wird."
Die West-Berliner Nahverkehrslinien fuhren die ganze Nacht gratis, erfuhren die Zuschauer vor den Bildschirmen. Auch McDonalds legte Sonderschichten ein, die bis zum nächsten Morgen andauern sollten.
Auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor fragte der Journalist ein Ehepaar, ob es die Grenzöffnung nutzen will, um drüben zu bleiben. Die Frau antwortete: "Nee, nur mal rüwa un kieken, 'n Kudamm seh'n. Morjen jehts wieda in de Arweed."
"Waaaahnsinn, Waaaaahnsinn, Waaaahnsinn!!!! brüllten gleich mehrere Leute, bis ihre Kehlen heiser waren.
"Komisch, de Maua is viel weenija breet, als ma det frija imma jegloobt haam", rief als nächstes ein Mann.
Erneut hörte man "So ein Tag, so wunderschön wie heute". Das Lied schien die Hymne des Tages zu sein, dachte ich. In West-Berlin gab es Gratis-Würstchen gegen das Vorzeigen des DDR-Ausweises, berichtete derweil der Journalist.
Die Straße am Brandenburger Tor auf westlicher Seite, die zum Gedenken an den Aufstand von 1953 im Ostteil der Stadt "Straße des 17. Juni" hieß, wurde kurzerhand in "Straße des 9. November" umbenannt. An mehreren Laternenmasten wurden Schilder mit dieser Aufschrift angebracht.
"Zuerst hamm wa een bisken Angst jehabt, dat die schießen", erzählte eine Frau. "Awa die denkn jar nich dran."
Bildwechsel zur Mauer. Unzählige Menschen waren inzwischen auf den breiten Streifen auf ihr geklettert, die so genannte "Mauerkrone", wie dem Reporter zufolge die exakte architektonische Bezeichnung lautete. Laut seiner Angabe waren es mittlerweile Tausende Berliner aus Ost und West, die sich über die gesamte Länge des Bauwerks rund um Berlin verteilten. Sie stießen mit russischem Sekt aus der DDR und Champagner aus dem Westen an, hatte der Journalist inzwischen auch schon erfahren.
Wieder kam ein Grenzübergang ins Bild. Westler bespritzten die DDR-Autos, die ihn passierten, mit riesigen Flaschen Sekt, trommelten begeistert mit den flachen Händen auf die Dächer der Fahrzeuge. Auch schwarz-rot-goldene Fahnen wurden in diesen Augenblicken auf westlicher Seite geschwenkt. Im Gegenzug hupte jedes DDR-Auto laut, nachdem es die Grenzlinie überschritten hatte.
Die Kamera schaltete auf den Kurfürstendamm, das dreikommafünf Kilometer lange "Schaufenster des Westens", eines der Zentren dieser Nacht. Ein paar Bürger der DDR wurden gefragt, welche Einkäufe sie in den nächsten Tagen im Westen tätigen werden. Südfrüchte, Schmuck, Kosmetikartikel und Elektrogeräte fielen als Antworten.
Wieder schaltete die Kamera zu einem Grenzübergang um. Die ersten Worte einer Frau nach dem Übertritt in den Westen: "Guten Abend – ich werd' verrückt!"
70.000 Leute sollen in dieser Nacht unterwegs sein, erzählte der Sprecher als Nächstes.
Aus der allgemeinen Jubelstimmung heraus war auf einmal eine Parole zu vernehmen: "Visafrei bis Hawaii! Visafrei bis Hawaii!"
Wieder gab es ein Bild auf die Mauer, auf der sich immer mehr Menschen zu versammeln schienen. Gerade wurden an verschiedenen Stellen wieder ein paar Leute von denen hoch gezerrt, die bereits oben standen. "Vier Meter ist die Mauer hoch", kommentierte es der Reporter, "doch das hält in dieser Nacht die Menschen nicht davon ab, sie in Unmassen zu besteigen."
"So ein Tag, so wunderschön wie heute ..."
Erneut stellte der Reporter die Frage an ein Ehepaar, ob es die Gelegenheit nutzen will, gleich im Westen zu bleiben. "Bloß schnell ma rüwakieken", antwortete die Frau, "bevoa die sich det andas üwalejen un die Grenze wieda dicht machen!"
"Mensch, ick werd' wahnsinnig, ick werd' verrückt!" wurde in die Kamera gerufen, gefolgt von "Wahnsinn, ick gloob's nich!"
Feuerwerksraketen explodierten in der Luft.
"So ein Tag, so wunderschön wie heute ..."
Immer paradoxere Bilder waren im Fernsehen zu sehen. Leute kletterten über Absperrzäune, Grenzpolizisten standen reglos daneben und taten so, als würden sie es nicht sehen. Berliner stiegen auf das Dach einer Ost-Berliner Wachkabine. Der diensthabende Grenzpolizist nahm es ohne Regung zur Kenntnis.
Wieder schaltete die Kamera zur Mauer. Es wurde eine Szene eingeblendet, die all das Unglaubliche des Abends, das bisher schon jedes Fassungsvermögen bei weitem überstieg, noch einmal in den Schatten stellte. Ich stand kurz davor, wie ein Geistesgestörter loszulachen. Etliche Männer hatten sich von irgendwoher Spitzhacken besorgt und schlugen damit wie besessen auf das verhasste Bauwerk ein. Laut hörte man die Metallwerkzeuge klimpern, trotz des hohen Lärmpegels herum. Das ist doch nicht wahr, dachte ich. Das ist doch nicht wahr. Das ist vollkommen verrückt. Das kann doch einfach nicht möglich sein. Das ist doch völlig außerhalb jeglichen Vorstellungsvermögens.
Der Berichterstatter vor Ort hatte inzwischen aufgehört, zu kommentieren. Stattdessen zeigte man nur Menschenmassen, wie sie in den Westen strömen, ohne ein einziges Wort, musikalisch unterlegt von "What A Wounderful World" von Louis Armstrong.

Die Uhr zeigte bereits kurz nach um Eins, als Mutter und ich wieder in unserer Küche unten ankamen.
Ich ging noch mal in mein Zimmer, entnahm mein altes Geschichtsbuch aus der 5. Klasse aus dem Regal und schlug das Kapitel über Ägypten auf. Es ist komisch, dachte ich. Wer weiß, wann ich da mal hinkomme. Aber irgendwie erscheint jetzt mit einem Schlage alles machbar.

Eine ausführliche Chronologie über die Geschichte der Mauer in zwei Teilen finden Sie hier:
https://www.myheimat.de/koelleda/politik/aktionstag-des-rundfunk-berlin-brandenburg-rbb-zum-fall-der-berliner-mauer-teil-1-d2851015.html

https://www.myheimat.de/koelleda/politik/aktionstag-des-rundfunk-berlin-brandenburg-rbb-zum-fall-der-berliner-mauer-teil-2-d2851017.html

https://www.myheimat.de/koelleda/politik/aktionstag-des-rundfunk-berlin-brandenburg-rbb-zum-fall-der-berliner-mauer-teil-3-d2851020.html

Ein Großteil der wörtlichen Zitate sowie einige Stimmungsbeschreibungen des Abends wurden folgenden Quellen entnommen:
www.berliner-zeitung.de,
www.remote.org/frederik/culture/berlin/sz-13-11-03-02.html,
"STERN-Zeitgeschichte": "9. November 1989. Die Deutsche Stunde".
Quelle Pressekonferenz: Hans-Hermann Hertle: "Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989." 7. Auflage. Christoph Links Verlag – LinksDruck GmbH, Berlin, 1996, ISBN 3-86153-113-5.
Der Rest entstammt der persönlichen Erinnerung des Autors.

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