Fehlendes Brot und große Hungers-Not in Telfs

Telfer Fabrikarbeiterinnen: Die „Nicht-Selbstversorger“ litten weit mehr als die bäuerliche Bevölkerung unter der Lebensmittelnot des letzten Kriegsjahres. | Foto: Archiv Stefan Dietrich
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REGION. "Heute hören wir täglich das Wort ,Krise‘. Was Medien so bezeichnen, ist aber meist nichts im Vergleich mit der Krise, die unsere Großeltern und Urgroßeltern vor hundert Jahren erlebten", weiß der Historiker Dr. Stefan Dietrich, der sich mit der Zeit des Ersten Weltkrieges, speziell in Telfs, beschäftigt hat.

Lebensmittelknappheit

Durch die Blockade der Kriegsgegner über Österreich-Ungarn und Deutschland herrschte damals extreme Lebensmittelknappheit, die durch Organisationsfehler, Korruption und Schleichhandel noch verstärkt wurde. Besonders drückend wirkte sich der Mangel in der Industriegemeinde Telfs aus. Dort waren mehr als die Hälfte der rund 3000 Einwohner sog. „Nicht-Selbstversorger“, also Leute, die – anders als die meist bäuerliche Bevölkerung der Nachbardörfer – auf Lebensmittelzuteilungen angewiesen waren.

Auswüchse des "Hungerjahrs"

Stefan Dietrich hat viele Quellen über die lokalen Auswüchse des "Hungerjahrs" 1918 ausgewertet. Im Buch „Telfs 1918 bis 1946“ (Studienverlag) wird geschildert, wie lächerlich gering damals die Kopfquoten an Grundnahrungsmitteln waren: Anfang des Jahres setzte die Bezirkshauptmannschaft Innsbruck die Verbrauchermenge von Brotmehl pro Person und Woche (!) auf 1.150 Gramm fest. Die wöchentliche Kochmehlmenge wurde in diesem Monat von 500 auf 250 Gramm pro Person gesenkt.
Bezüglich der Milchzuteilung informierte die BH die Gemeindeführung im Mai 1918 über folgende tägliche Quoten: Stillende Mütter und Kinder unter 2 Jahren: 1 Liter; Kinder von 2-6: 1/2 Liter; Kinder von 6-14: 1/4 Liter. Restliche Bevölkerung: je nach Quote, jedoch nicht über 1/8 Liter.
Ungefähr zur selben Zeit wurden an anderen Lebensmitteln pro Person und Woche gewährt: 500 g Fleisch, 60 g Butter und 2 kg Kartoffeln. Im September 1918 betrug die wöchentliche Fleischzuteilung nur mehr 250 g pro Person.

Der Staat hat versagt

Durch das Versagen der staatlichen Verteilung und den blühenden Schleich- und Schwarzhandel gelangten in der Regel aber nicht einmal die amtlich festgelegten Minimalrationen an die Empfänger. Im Mai 1918 klagte die Telfer Gemeindeleitung, dass durch die zu geringe Schlachtviehzuteilung pro Woche, lediglich 90 Gramm Fleisch pro Kopf zur Verfügung standen. Im Oktober rechnet der "Tiroler Anzeiger" vor, dass in Telfs im Jahr nur siebenmal je 8 Dekagramm Butter pro Person ausgegeben wurden. An Kartoffeln wurde, so heißt es im Artikel, seit Juli dreimal ein Kilo pro Kopf abgegeben. Auch die Brotversorgung funktioniere nicht.
Alle möglichen Ersatzmittel kamen zum Einsatz, so mischte man zerriebene Kastanien ins Mehl oder stellte „Kriegskuchen“ aus getrockneten Kartoffelschalen her. "Wir haben Brot, das nicht einmal der Hund frisst, auch anderes Vieh nicht", schrieb der Telfer Chronist Josef Schweinester.
In der Bevölkerung machten sich angesichts der katastrophalen Versorgungslage Verzweiflung und Wut breit. Bei der Brotzuteilung mussten die Menschen stundenlang anstehen. Laut "Volkszeitung" standen die Leute im Juli 1918 um 9:00 Uhr vormittags vor der Arbeiterbäckerei an, um sicher etwas Brot zu ergattern, wenn um 19:00 Uhr die Lieferung kommt. Die Hungrigen waren wütend: Die zur Überwachung der Brotausgabe eingesetzten Gendarmen wurden bedroht, einer wurde sogar niedergeschlagen und entwaffnet.

Diebe und Hamsterer

Weitere Auswüchse der allgemeinen Notlage waren Felddiebstähle und "Hamsterer", die scharenweise in die Landgemeinden strömten. Mit Rucksäcken ausgerüstete Städter – meist Frauen – versuchten, von den Bauern Lebensmittel zu ergattern, das war schlimm für die ortsansässige Bevölkerung. Die Behörden mussten mit Gewalt dagegen vorgehen. So berichtete die "Landzeitung" von einer Razzia, bei der am 30. Juli 1918 an den Bahnhöfen Telfs-Pfaffenhofen und Flaurling hunderte Hamsterer, die dort mit ihren Rucksäcken voll Frühkartoffeln auf den Zug warteten, von Gendarmen und Soldaten kontrolliert wurden und ihre Beute wieder verloren.
Neben Lebens- und Futtermitteln fehlte es auch an Leder, Stoff, Wolle, Zwirn, Brennholz, Kohle, Petroleum, Kerzen, Tabak uvam. In der Not wurden z.B. Brennnesseln zur Stofferzeugung verwendet.
Die Zeit der Not, die bei einer ganzen Generation ein Trauma hinterließ, dauerte noch lange über das Kriegsende hinaus an. Erst im Jahr 1920 waren wieder Grundnahrungsmittel in ausreichender Menge verfügbar. Die Rationierung bzw. Zuweisung von Mehl wurde erst 1922 wieder aufgehoben.

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