Kommentar
Die Glocke läutet und der Hund bekommt sein Futter

Christian Marold
RZ-Chefredakteur | Foto: RZ

Der Pawlowsche Hund. Wer kennt das Experiment zur klassischen Konditionierung nicht? Die Bezeichnung pawlowscher Hund (auch Pawlow’scher Hund) bezieht sich auf das erste empirische Experiment des russischen Forschers und Nobelpreisträgers für Medizin, Iwan Petrowitsch Pawlow, zum Nachweis der Konditionierung. Ein Hund wurde so konditioniert, dass er bei Glockengebimmel mit Futter rechnete. Die Verbindung Glocke und Futter wurde dem Hund also antrainiert. So die sehr verkürzte Erklärung des Experiments.

Gilt dieses Prinzip auch für uns Menschen? Wie sehr sind wir im alltäglichen Leben konditioniert? Sind Gewohnheiten nur simple Konditionierungen? Beispiel: Wir sehen ein bekanntes Gesicht gehen auf diese Person zu und geben ihm instinktiv die Hand oder umarmen ihn sogar. Busserl links, Busserl rechts. Das haben wir so gelernt. Von Kindheit an. Erfolgte bei einer Begrüßung nur ein schüchternes Hallo, dann wurde man von den Eltern gemaßregelt, dem gegenüber doch brav die Hand zu geben. Das Ganze bedeutet also nichts anderes, dass wir alle dazu konditioniert wurden und werden, einem Menschen bei einer Begrüßung zumindest die Hand zu reichen. In anderen Ländern oder Kulturkreisen gibt es andere Begrüßungsformen, die in den Habitus der jeweiligen Gesellschaft übergegangen sind. Soweit so gut.

Was aber, wenn man solche Gewohnheiten oder eben Konditionierungen ablegen muss? Für die meisten ist es ein sehr mühsamer Weg, alte Gewohnheiten abzulegen. Ähnlich dem Hund, der die Glocke hört, aber nichts mehr zu fressen bekommt. Er hat Speichelfluss, wedelt vor Freude mit dem Schwanz, bekommt aber kein Fressen. Das ist bei uns Menschen mit unseren vielen erlernten Gewohnheiten genauso.

Was uns lieb geworden oder in unserem Unterbewusstsein einprogrammiert ist, können wir nur schwer ändern oder gar löschen.

Bei all den unterschiedlichen Expertenmeinungen zu notwendigen Maßnahmen, einer zweiten oder gar dritten Infektionswelle, sind die meisten von uns doch froh über die von der Regierung verfügten Lockerungen. Denn eines ist während der restriktiven Phase klar geworden: Abstandhalten, lieb gewordene Menschen nicht umarmen oder busseln zu können, außerhalb der Faschingszeit Masken zu tragen und, und, und. All das sind nicht wir. Das haben wir so nicht gelernt und daher war der Unmut groß über die neuen Regeln in dieser Phase.

Ist diese Denkweise langfristig richtig? Was, wenn wieder eine neue Lockdown-Phase kommt? Wer hat dann daran schuld? Ist es unser Drang nach der vermeintlich gewohnten Freiheit oder sind es die gelernten Rituale, die wir nicht ablegen wollen, weil wir so konditioniert sind?

Was gut erkennbar ist: mit neuen Situationen können wir nicht wirklich gut umgehen. Wir tun nur so in der Hoffnung, dass eh alles bald wieder wie gewohnt weitergeht. Darum passen wir uns kurzfristig einer neuen Situation an. Wir fallen aber recht schnell wieder in alte, gewohnte Muster. Genau dies könnte uns langfristig zum Verhängnis werden.

Darum wäre jetzt der richtige Zeitpunkt über Änderungen unserer Verhaltensmuster nachzudenken. Und ja, das ist ein Prozess, der nicht von heute auf morgen funktionieren wird. Aber wenn wir immer wieder dogmatisch an alten Gewohnheiten festhalten, dann wird sich nichts ändern. Vielleicht kommt hier die berechtigte Frage, warum man was ändern sollte? Stimmt, aber bedeuten Konditionierungen - nur weil sie alt und klassisch erscheinen - auch automatisch, dass sie langfristig für ein gemeinsames Miteinander förderlich sind? Ich persönlich habe Zweifel daran.

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