Psychische Belastung steigt
Experte fordert mehr Maßnahmen zur Suizidprävention
Viele Menschen spüren durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie erhöhte psychische Belastungen. Die Suizide sind in dieser Zeit aber gesunken.
WIEN. Thomas Niederkrotenthaler ist stellvertretender Leiter der Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin am Zentrum für Public Health der MedUni Wien. Gemeinsam mit 70 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat er eine Studie veröffentlicht, die internationale Suiziddaten während der Corona-Krise vergleicht. Das Ergebnis: In keinem der 21 untersuchten Länder (mit mittlerem und hohem Einkommen) scheint die Suizidrate für die erste Zeit der Pandemie erhöht, und in einigen sogar verringert. Für Österreich gab es einen Rückgang von 4 Prozent. Im Interview erklärt der Experte, was der Grund dafür sein könnte und warum man genau jetzt wachsam bleiben sollte.
Für Ihre Studie haben Sie Daten aus drei österreichischen Regionen verwendet, unter anderem aus Wien. Wie sieht die Lage hier aus?
THOMAS NIEDERKROTENTHALER: Für Wien gab es im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 keinen statistisch signifikanten Anstieg der Suizide. Zu Jahresbeginn hat sich dieser Trend fortgesetzt. Das bedeutet: Auch hier hat sich der psychische Stress in der ersten Pandemiephase nicht auf die Suizidrate durchgeschlagen.
Was sind die Gründe dafür?
Wir wissen aus der Analyse unterschiedlicher Katastrophen, dass es in der ersten Phase oft nicht zu einem Anstieg der Suizide kommt. Während der Corona-Krise gab es zunächst hohen gesellschaftlichen Zusammenhalt, Jüngere waren zum Beispiel für Ältere einkaufen. Außerdem gab es soziale und politische Interventionen auf dem Arbeitsmarkt und bei der Abfederung der finanziellen Auswirkungen der Krise wie den Delogierungsstopp. Und die psychosozialen Angebote haben rasch auf die neue Situation reagiert, etwa mit Psychotherapie via Skype. Das war übrigens eine langjährige Forderung, die nun endlich umgesetzt werden konnte.
Aber die psychische Belastung ist angestiegen?
Ja, das war seit Beginn so. Jetzt hat sich noch dazu das Gefühl des Zusammenhalts geschwächt und es ist ein Ermüdungseffekt dazugekommen. Wir erheben in einer anderen Studie die psychische Gesundheit in Österreich und hier zeigt sich, dass mittlerweile 21 Prozent depressive Symptome, 24 Prozent Ängste haben. Der Druck steigt an, besonders durch die lange Dauer der Krise mit wiederholten Lockdowns. Eine von 5 Personen berichtet von häuslicher Gewalt. Dazu muss man sagen: All diese Probleme treffen junge Menschen am stärksten.
Wie kann man dem begegnen?
Genau jetzt sind wir an einem wichtigen Punkt: Durch die Impfungen sehen wir Licht am Ende des Tunnels, vielleicht ist die körperliche Gefahr bald gebannt und wir können zu einem normaleren Leben zurückkehren. Aber wir müssen jene unterstützen, die in Schwierigkeiten sind, damit sie nicht zurückbleiben und die Zahl der Suizide später nicht doch noch ansteigt. Wir brauchen eine langfristige Aufarbeitung der Krise: psychisch, sozial und auch am Arbeitsmarkt.
Wie kann diese Unterstützung aussehen?
Es wäre nötig, Maßnahmen gegen langfristige Arbeitslosigkeit zu setzen, die Menschen in Beschäftigung zu halten und finanzielle Einbußen durch die Krise weiterhin abzufedern. Ein Suizid wird nicht durch einen einzelnen Grund wie Arbeitslosigkeit, Wohnungsverlust oder Scheidung ausgelöst, das ist vielschichtiger. Aber hier kann man eingreifen. Außerdem muss das psychosoziale Angebot weiter ausgebaut werden. Das bedeutet: Sehr viel mehr Psychotherapie auf Krankenschein, mehr Kapazitäten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, mehr telefonische und Direktkontakt-Angebote.
Wie entwickelt sich die Suizidrate allgemein?
Die Zahl der Suizide ist seit den 1980ern stark zurückgegangen, in Wien sind es 60 Prozent weniger und in Österreich 50 Prozent weniger. Das hat vor allem mit einem Ausbau der psychosozialen Angebote wie der Krisenintervention zu tun, aber auch mit einer verbesserten Medienberichterstattung über das Thema.
Unterstützung bei psychischen Krisen gibt es hier:
Wiener Kriseninterventionszentrum, telefonisch unter 01/406 95 95 (Mo-Fr, 10-17 Uhr) erreichbar.
Österreichisches Suizidpräventionsportal
Sozialpsychiatrischer Notdienst der Stadt Wien: 01/313 30 (täglich rund um die Uhr besetzt)
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