Die Befreiung von Reutte 1945

Der Besatzungwechsel von den Amerikanern zu den Franzosen am 5. Juli 1945.
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  • Der Besatzungwechsel von den Amerikanern zu den Franzosen am 5. Juli 1945.
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„Die Stadt Reutte hat unter allen Umständen das beste Vorbild für die Verteidigung von ganz Tirol zu geben, denn, wenn Reutte fällt, bricht in ganz Tirol der Widerstand zusammen.“ Diesen Befehl erteilte Gauleiter Franz Hofer am 24. April 1945 dem Kreisleiter Erwin Höllwarth, der seinerseits die Verteidigung von Reutte bis „zum letzten Stein“ mit dem Zusatz, dass er sich schämen würde, wenn in Reut­te drei Häuser ganz blieben, befahl.

Am 28.4.1945 kamen die Amis

Am 28. April überschritten die Amerikaner die Grenze bei Vils. Nun war klar, dass es am folgenden Tag zur befohlenen Verteidigung von Reutte kommen würde. In Reutte rüsteten aber Männer des Widerstands zur Selbstbefreiung. Es gab zwei Widerstandsgruppen, die offensichtlich voneinander nichts wussten. Eine bildete sich um den späteren Breitenwanger Bürgermeister Florian Kerber, die andere um den Reuttener Schmiedemeister Johann Pacher. Der Breitenwanger Pfarrprovisor Karl Ruepp und der Guardian des Reuttener Franziskanerklosters, Pater Amantius Bilgermair, kooperierten mit dem Widerstand. Während Kerber im Metallwerk die Kriegsproduktion sabotierte, gelang es Pacher in Reutte den Standortkommandanten Oberleutnant Ernst Lothar Reich für den Widerstand zu gewinnen.
Aus Sonthofen rückten am 28. April drei starke SS-Bataillone zur Verteidigung von Reutte im Sinne des Befehles von Gauleiter Hofer an.

Der Widerstand wurde aktiv

Reich täuschte, ohne dem Kreisleiter Meldung zu machen, einen höheren Befehl vor und beorderte diese Bataillone nach Innsbruck weiter. Die Widerstandsgruppe um Pacher riegelte am 29. April um ein Uhr nachts das Haus, in dem der Kreisleiter wohnte (heute Schulstraße 32), ab und verübte ein Schussattentat auf den Kreisleiter, der dieses zwar überlebte (Höllwarth starb am 13. Jänner 2000), aber schwerverletzt ins Krankenhaus Zams gebracht wurde.

Munition vernichtet

Pfarrprovisor Karl Ruepp teilte der Reuttener Widerstandsgruppe mit, dass die Lechbrücke gesprengt würde. Pacher fand mit einem Helfer 24 sprengbereite Munitionskisten vor, von denen sie 22 in den Lech warfen, von den verbleibenden zwei aber die Zündschnüre zerstörten. Im letzten Moment konnte ein Leutnant der Wehrmacht die zwei Munitionskisten reparieren und gegen 16 Uhr einen Teil der Brücke sprengen. Die heftige Detonation ließ erahnen, was geschehen wäre, wären noch 22 weitere Munitionskisten explodiert.
Die Amerikaner waren unterdessen auf dem Anmarsch auf Reutte, nachdem sie den militärischen Widerstand bei der Ulrichsbrücke und in Musau niedergekämpft hatten. An dieser Stelle muss der Wahrheit die Ehre gegeben werden, dass sich auch zwei führende Nationalsozialisten um die Rettung von Reutte verdient machten.

Weiße Fahnen gehisst

Landrat Dr. Praxmarer und der Reuttener Bürgermeister Lothar Kelz fuhren den Amerikanern mit weißer Fahne entgegen und baten erfolgreich um kampflose Einnahme von Reut­te. Als Gewähr, dass in Reutte kein Schuss fallen würde, mussten sie sich als Geiseln verbürgen.
Inzwischen hielten die Bewohner von Reutte weiße Fahnen zum Zeichen der kampflosen Übergabe bereit und schauten sehnsüchtig zum Kirchturm. Pater Amantius Bilgermair beobachtete vom Kirchturm aus den Vormarsch der Amerikaner und, als deren Vorhut vor Reutte sichtbar wurde, hisste er die weiße Fahne am Turm der Klosterkirche. Das war das allgemeine Signal, die Häuser weiß zu beflaggen.
Kurz vor 17 Uhr hörte man dann das Rasseln der Panzer. Bürgermeister Kelz und Landrat Praxmarer gingen als Geiseln vor den amerikanischen Panzern. Die Bewohner von Reutte brachten den Soldaten Blumen, Wein, Bier und Apfelsaft, was jene gerne entgegennahmen. Während des ganzen Einmarsches fiel kein Schuss und man glaubte in Reutte, das Ärgste überstanden zu haben. Doch es sollte anders kommen.

Drei tote Amerikaner

Am kommenden Tag, dem 30. April, erschienen die Amerikaner um 14 Uhr bei Franz Hosp, der von 1934 bis 1938 Amtsverwalter der Marktgemeinde Reutte gewesen war, und forderten ihn auf, das Bürgermeis­teramt zu übernehmen, widrigenfalls sie einen alliierten Kommissar einsetzen würden. Hosp, der 1934 nach dem nationalsozialistischen Sprengstoffanschlag auf das Elektrizitätswerk in schwieriger Zeit schon einmal eingesetzt worden war, übernahm nochmals diese Aufgabe.
Bereits eine halbe Stunde nach seiner Amtsübernahme wurde das Gebäude der Kreisleitung der NSDAP im Obermarkt (dort wurde später das Kaufhaus Saurer gebaut) durch einen Zeitzünder, der noch vor dem Einmarsch der Amerikaner gelegt worden war, in die Luft gesprengt, wobei drei amerikanische Soldaten ihr Leben verloren. Damit verlor Reutte das Vertrauen des amerikanischen Militärkommandanten.
Er drohte – sollte der Täter nicht gefunden werden – 60 Mann in der Südtiroler Siedlung aufzustellen und jeden Zweiten davon zu erschießen. Zur angedrohten Erschießung von Geiseln kam es nicht, da der Täter, ein junger Nationalsozialist, der, als er sich entdeckt glaubte, seine Frau und dann sich erschoss, ausgeforscht wurde. Jedoch blieb die Stellung von Geiseln aufrecht und der Militärkommandant verfügte für Reutte eine Kontribution (Kriegsentschädigung) von 1000 US-Dollar pro Einwohner, also einen Betrag von rund 3.300.000 Dollar.
Häftlinge wurden befreit
Am 30. April 1945 konnten die gefangenen Franzosen aus dem Hotel Forelle am Plansee, einem Außenlager des Konzentrationslagers Dachau, und die Sippenhäftlinge, die in Verbindung mit dem Anschlag vom 20. Juli 1944 auf Hitler gebracht wurden, aus dem Außenlager im Hotel Ammerwald unblutig befreit werden.

Weltgeschichte aus Reutte

Dass wenige Tage nach der Befreiung von Reutte, und zwar am 8. Mai 1945, hier Weltgeschichte geschrieben wurde, war niemandem bekannt. Wernher von Braun trat mit seinem Forscherstab in Reutte zu den Amerikanern über und wurde in den Vereinigten Staaten zum „Vater der Raumfahrt“. Er wohnte in der Südtiroler Siedlung, und zwar im heutigen Haus Wolkensteinerstraße 37.
Allerdings muss die amerikanische Darstellung, dass Wernher von Braun gefangen genommen worden sei, berichtigt werden. Braun war für die Amerikaner von Anfang an kein Gefangener, sondern Staatsgast, und die ihn begleitenden Soldaten waren keine Bewacher, sondern Geleitschutz.
Eine weitere gefährliche Situation entstand, als die Amerikaner am 18. Mai 1945 das Pulverdepot am so genannten Pfannenbichl am Südrand von Reutte unsachgemäß sprengten. Die Verwüstung, die die Druckwelle anrichtete, war verheerend. Noch in Wängle gingen Fensterscheiben in Brüche. In Reutte wurden Dächer abgedeckt, Fenster zertrümmert und Wohnungseinrichtungen und anderes zerstört. Wie durch ein Wunder kamen keine Menschen zu Schaden.
Nach wochenlangen Verhandlungen erreichte Hosp am 3. Juli 1945 die Zusage, dass, da sich kein weiterer Zwischenfall ereignete, die Kontribution von 3.300.000 Dollar gestrichen wurde. Am 5. Juli 1945 überließen die Amerikaner die Besatzung den Franzosen und zogen ab. Drei tote amerikanische Soldaten, deren Namen nicht ermittelt werden konnten, waren die traurige Bilanz der Befreiung von Reutte aus nationalsozialistischer Herrschaft. Bedenkt man das Schicksal von Grän im Tannheimer Tal, das am Tag der Befreiung von Reut­te wegen Widerstandes von der US-Artillerie in Brand geschossen und zu einem Drittel vollkommen zerstört wurde, kann man ermessen, wovon Reutte an diesem 29. April 1945 bewahrt wurde.

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