5 Minuten Wien: Odyssee in Brigittenau
Es ist zehn nach neun. 20 Minuten hat Marketingleiter F., bis er sich mit seiner Kollegin bei einem Termin trifft. Geht sich locker aus, denkt er. Ein Irrtum. Der erste Fehler: F. steigt bei der falschen Bimstation aus. Freunde würden verständnisvoll nicken, schließlich kennt er Öffis sonst nur von außen und ist in der Szene als Easy Rider der Vespas bekannt. Alle anderen würden sagen, er sei ein Tiroler Landei. Egal wie: Er muss sich auf einen erfrischenden Morgenspaziergang einstellen. Um 9.25 Uhr bemerkt er ein Straßenschild, auf dem zu lesen ist, dass er sich im 20. Bezirk befindet. Ein Telefonat mit der Kollegin bestätigt seine leise Befürchtung: Der Termin ist eigentlich im 2. Bezirk. Ein Blick auf Google Maps zeigt, wie falsch er wirklich ist. Um die Verspätung in Grenzen zu halten, beginnt er zu laufen. Um dabei die Orientierung nicht zu verlieren, gibt es immer wieder Kontrollblicke auf Google Maps. Zwischendurch wird nur Grau angezeigt. Dieser Teil der Welt ist offensichtlich nicht einmal von den Ober-Überwachern von Google erschlossen worden. Zwischendurch teilt F. seiner Kollegin seinen Aufenthaltsort mit. Sie lacht. Er weint. Irgendwann passiert er den Mortaraplatz. Der Name erinnert nicht zufällig an Mordor, den verhängnisvollen Ort aus "Herr der Ringe", das ist F. klar, genau wie die Tatsache, dass er bald verenden wird. Dann ist er endlich in der richtigen Gasse. Sein Ziel ist bei Nummer 169. Er ist erst bei 40. Langsam setzt er einen Fuß vor den anderen. Immer wieder. Immer wieder. Immer wieder. Und dann ist er irgendwann endlich da. Es ist 9.50 Uhr. Er hat überlebt.
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