RMagazin Buchtipp: René Freund "Niemand weiß, wie spät es ist"
Wandern mit Urne – von Mirjam Dauber
Noras Vater ist tot und hat ein etwas skurriles Testament hinterlassen. Seine einzige Tochter, die er nach dem Unfalltod der Mutter alleine in der Wahlheimat Paris großgezogen hat, soll auf Wanderschaft gehen. In Österreich. Dem Geburtsland der Mutter, das sie kaum kennt. Und das nicht alleine, sondern unter notarieller Begleitung durch Bernhard, seines Zeichens etwas schrulliger Jurist aus Wien, dessen Marotten Nora belustigen und nerven zugleich. „Oh mein Gott, dachte Nora, auch das noch. Ein Provinzler. Nora hielt, genau genommen, auch Wiener für provinziell. Von Paris aus gesehen wirkten andere Städte schnell einmal wie Kuhdörfer. Das alles sagte sie aber nicht.“ Im Gepäck haben die beiden die Urne mit den sterblichen Überresten von Noras Vater. Ihr Ziel kennen sie nicht, aber ihren Auftrag. Nur, wenn sie den täglich übermittelten Anweisungen aus Paris Folge leisten, wird Nora das Erbe antreten können. Nora und Bernhard machen sich auf den Weg, überwinden die Widrigkeiten schlechten Wetters und noch schlechterer Ausrüstung. Finden die im Bus vergessene Urne wieder und trotzen den Attacken trinkfester Stammtischbrüder. Schön langsam bröckelt die Fassade, nähern sich die beiden an, teilen ihre Familiengeschichte, Brüche, Schicksalsschläge, Schwächen: „Weißt du, was ich mache, wenn ich nicht schlafen kann? Ich liege einfach auf dem Rücken und denke an den schönsten Augenblick des Tages. Jeder Tag hat einen schönsten Augenblick.“ Plötzlich ergibt vieles einen Sinn, verliert der Wunsch des Vaters seine Kuriosität und offenbart einen Plan, der überzeugt. René Freunds neuer Roman „Niemand weiß, wie spät es ist“ ist traurig und komisch zugleich, erzeugt angenehme Spannung, ist kurzweilig erzählt, taucht unter die Oberfläche, ohne rührselig oder allzu schwermütig zu sein und bewahrt eine hoffnungsfrohe Lebensfreude. Wer den österreichischen Autor Freund bis jetzt noch nicht für sich entdeckt hat, dem sei auch sein 2013 erschienener Roman „Liebe unter Fischen“ an dieser Stelle wärmstens empfohlen.
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