Kematen arbeitet seine NS-Zeit auf

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"Messerschmittwerke", "Zwangsarbeit", "Südtirolersiedlung" – diese und noch weitere Begriffe sind allgemein geläufig, wenn es um die Gemeinde Kematen in Tirol geht. Mehr über Kematen und die Rolle, die die Gemeinde in der NS-Zeit gespielt hat, gibt es ab sofort in einem neuen Buch, das sowohl die Gemeindeführung als auch die Autoren als "wichtiges zeitgeschichtliches Dokument" präsentieren.

Aufarbeitung

Bgm. Häusler: "Kematen ist die erste Gemeinde Tirols, die ihre Geschichte während des Nationalsozialismus detailliert aufarbeiten lässt. Umfangreiche wissenschaftlich fundierte Arbeiten gibt es lediglich in den Bezirksstädten Lienz, Landeck und Schwaz."
Der Bürgermeister nimmt sich betreffend des Werkes und den Ausführungen, die darin enthalten sind, kein Blatt vor den Mund: "Die Wahrheit tut manchmal weh und die Ergebnisse sind mitunter nicht angenehm. Kematen stellt sich hier aber seiner Geschichte und klammert dabei auch die dunklen Flecken nicht aus!"

Tiefe NS-Spuren

Im Auftrag der Gemeinde Kematen haben sich der renommierte Historiker Horst Schreiber und die Geschichtsforscherin Sabine Pitscheider in den vergangenen zwei Jahren intensiv mit der Geschichte Kematens in der NS-Zeit beschäftigt. Maßgeblich dazu beigetragen hat auch Ortschronist Hermann Ruetz, der seine zahlreichen Unterlagen zur Verfügung gestellt hat und mit seinem Wissen wertvolle Hilfestellung bieten konnte.
Eine der zentralen Aussagen im 300 Seiten starken Buch: "Der Nationalsozialismus hat auch in Kematen tiefe Spuren hinterlassen."
Die Zeit zwischen 1938 und 1945 veränderte das Dorf bis heute. Lebten 1938 gezählte 708 Menschen im Dorf, so waren es im Mai 1945 nach der Befreiung durch US-Truppen rund 5.000 Menschen. Die meisten davon ZwangsarbeiterInnen, Kriegsgefangene und Flüchtlinge. Am Eingang ins Sellraintal standen die Messerschmittwerke, in der Nähe des Dorfkerns die neu erbaute Südtirolersiedlung.

Einstimmige Entscheidung

Bgm. Häusler ist sich der Problematik, die diese Aufarbeitung auslösen könnte, durchaus bewusst: "Die Entscheidung, sich auch mit den dunklen Seiten der Kemater Geschichte zu beschäftigen, erfolgte im Gemeinderat einstimmig. Ich gehe davon aus, dass jetzt auch alle – und ich betone nachdrücklich alle – den Inhalt des Buches mittragen!"

Hintergrund des Buches

Der Gemeinderat hat anlässlich des gemeindeeigenen Jubiläums am 26. März 2013 einstimmig beschlossen, eine Studie in Auftrag zu geben, welche "die Bedeutung und Rolle der Gemeinde Kematen in Tirol sowie ihrer Gemeindevertreter und ihrer einzelnen Gemeindemitglieder einschließlich der im Gemeindegebiet von Kematen ansässigen Unternehmen in der NS-Zeit im Detail beleuchtet."

Stimmen zum Buch

Bgm. Rudolf Häusler: "Was wir mit diesem Buch ausdrücken wollen, passt in die heutige Zeit. Wir müssen Zivilcourage zeigen, wir müssen hin- statt wegschauen und wir müssen Position beziehen. Dazu muss man die Dinge aber offen ansprechen. Die Frage ist dann nicht, was wir hätten tun sollen, sondern vielmehr: Was tun wir?"

Horst Schreiber, Herausgeber:

"Das NS-Regime hat die Gemeinde Kematen modernisiert. Doch zu welchem Preis? Die Kehrseite dieser in der NS-Zeit geschaffenen Werte waren Terror und Zwangsarbeit, Diskriminierung und Verfolgung von Menschen, die sich nicht anpassen oder abweichende politische Einstellungen hatten, und schließlich die Vernichtung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen, von Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti. Erschreckend hoch ist die Zahl jener Burschen und Männer aus Kematen, die die deutsche Wehrmacht zu den Waffen rief und die in einem verbrecherischen Krieg für 'Führer' und Reich ihr Leben lassen mussten!"

Sabine Pitscheider, Autorin:

"Nur die Jahre der NS-Zeit darzustellen, ließe viele Fragen unbeantwortet, weshalb das Buch in drei großen Kapiteln auch die Jahre davor und danach behandelt. Jedes der drei Kapitel konzentriert sich auf die wesentlichen Ereignisse, die Kematen von Grund auf veränderten oder stabilisierten."

Kurzer Auszug aus dem Buch:

Auszug aus dem Kapitel 6.1.3. "Zwangsarbeit in den Messerschmittwerken":

Als die Firma Messerschmitt im Frühjahr/Sommer 1940 mit der Gauleitung vereinbarte, maximal 1000 Menschen in ihrer Fabrik beschäftigen, dafür höchstens 150 Wohneinheiten auf Kemater Gebiet bauen und keine LandarbeiterInnen anstellen zu wollen, dürfte ihr klar gewesen sein, dass dieser Beschäftigungsstand nicht allein aus der heimischen Bevölkerung zu gewinnen war. Im besten Fall lebten in den 150 Wohneinheiten Familien und die Eltern, Männer und Frauen, konnten angeworben werden, was maximal 300 Menschen ergibt. Aus den umliegenden Ortschaften wie Oberperfuss, Unterperfuss, Zirl und Völs dürften weitere 100 bis 200 dazugekommen sein, vielleicht noch an die 100 Personen aus dem deutschen Reich. Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft abzuziehen, verbot sich, da Messerschmitt bei der Vereinbarung um Zuge der Ankaufsverhandlungen dies zugesagt hatte. An diese Zusage erinnerte Landesbauernführer Jörg Wurm Messerschmitt-Geschäftsführer Walter Waizer im Jänner 1941, als er ihm zu seiner Position gratulierte. Wurm hoffte,

"... dass Du mit meinen Kematner Bauern im besten Einvernehmen bleibst und Du sie mir ja nicht zu Proletariern machst, noch weniger sie dazu verleitest, Euch noch mehr Gründe und Böden abzutreten. Wenn Du mir das nicht heilig schwörst, werde ich die Kematner Bauern alle aufhetzen, damit sie Dich eines schönen Tages zu tausend Stücken zerschlagen und wenn es die Kematner Bauern nicht können, so werde ich es selbst tun."

Buchverkauf

"Kematen in Tirol in der NS-Zeit" ist im "Studienverlag" erschienen (ISBN 978-3-7065-5516-6) und im Buchhandel erhältlich (19,90 Euro). Im Gemeindeamt Kematen liegen 400 Exemplare auf, die von Interessierten dort bezogen werden können.

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