Europa, betrachtet aus der Tiefgarage
Vladimir Vertlib erzählt in einem Essay von Begegnungen mit Flüchtlingen in Salzburg.
"Ich war auch einmal in einem Camp für Flüchtlinge", sagt Vladimir Vertlib und spricht von der Tiefgarage am Salzburger Hauptbahnhof, dem Camp Asfinag und der Brücke nach Freilassing. Der Schriftsteller mit russisch-jüdischen Wurzeln ist längst Österreicher, hat selbst eine bewegende Geschichte hinter sich. Als im Vorjahr tausende Flüchtlinge ihren Weg in eine Zukunft über Salzburg suchten, wollte er nicht noch mehr spenden, nicht noch noch mehr zum Thema Flucht schreiben. Er wollte endlich "etwas machen".
"Weiß, wie es sich anfühlt"
Vor 45 Jahren ist er als Fünfjähriger selbst ausgewandert, von seiner Geburtstadt Leningrad über Moskau nach Wien und dann weiter nach Schönau an der Donau. Schloss Schönau diente damals als Lager für nach Israel auswandernde russische Juden. Als Vladimir Vertlib letzten September am Salzburger Hauptbahnhof erschöpfte und erkrankte Flüchtlingskinder ohne Schuhe sah, kam seine Erinnerung wieder: "Ich war auch einmal so ein Fünfjähriger, schwer krank von den Anstrengungen und da habe ich mich daran erinnert, wie sich ein Kind fühlt in so einer Situation: gestresst, verwirrt, verloren."
Er schmierte Käsebrote, belud Einkaufswagen mit Mineralwasserflaschen, half bei der Kleiderausgabe. Später war er bei der Bebänderung im Camp Asfinag und beim Grenzübertritt nach Freilassing im Einsatz.
Falsche Entscheidungen
Seine eigene Ohnmacht und die Infamie der Situation waren emotionale Begleiter. "Einmal waren zu wenig Schuhe, zu wenig Mäntel zum Austeilen da. Ich stand da, mit den letzten beiden Paar Schuhen – und etwa 20 Männer standen vor mir. Alle wollten die Schuhe haben, und ich musste entscheiden, wem ich sie gebe. Dem, der lächelt? Aber vielleicht ist der verbissen Schauende der Bedürftigere? Ich wusste, ich würde nie 'richtig' entscheiden", beschreibt Vladimir Vertlib.
Andere Ansichten
Er erinnert sich an die Begegnung mit einem ehemaligen Flüchtling, der seit 27 Jahren in Österreich lebt und sich beklagte, dass diese Flüchtlinge 'alles' bekämen – ihm habe damals niemand geholfen. "Ich habe ihn gefragt, ob er sich nicht darüber freue, dass sich das geändert habe. Aber er war anderer Ansicht. Ich habe geantwortet, er könne ja seinen österreichischen Pass zerreißen und sich in die Schlange stellen."
Einige seiner Erlebnisse mit Flüchtlingen und Helfern in Salzburg Vladimir Vertlib er nun in einem sehr persönlichen Beitrag "Let's go Europe!" für die von Uwe Beyer herausgegebene Anthologie "Europa im Wort" niedergeschrieben. Das Buch im Heidelberger Lese-Zeiten Verlag erschienene Werk ist eine literarische Auseinandersetzung von 16 Autorinnen und Autoren mit der Idee Europa. Unter den Autoren: Martin Horváth, Irena Brezná, Adolf Muschg oder Tanja Dückers.
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