Europäische Kommission: Droht erstes Artenschutzverfahren gegen die Republik Österreich?
Schwere Verfehlungen gegen den europaweiten Artenschutz wirft die Bürgerinitiative IGL-Marchfeldkanal der Stadt Wien vor. Das am strengsten geschützte Tier Österreichs soll einem Wohnbauprojekt weichen. Nun fordert die Europäische Kommission nach eingehender Prüfung von Expertenunterlagen eine Stellungnahme der Republik Österreich. Das erste Artenschutzverfahren gegen die Republik droht. In Europa sollen indes bis 2020 keine Tier- und Pflanzenarten mehr aussterben. Diesem Ziel hat sich die EU-Kommission zuletzt verschrieben.
Schon seit 3 Jahren schwelt der Konflikt um die Ziesel beim Heeresspital in Wien Stammersdorf. Durch die Errichtung von rund 1.000 Wohnungen würden EU-weit geschützte Lebensräume des gefährdeten Ziesels zerstört – so die Bürgerinitiative. Nach europäischem Naturschutzrecht gehört das Ziesel zu den „streng zu schützenden Tierarten von gemeinschaftlichem Interesse“. In Wien ist es als „prioritär bedeutend“ eingestuft und hat Lebensraumschutz im gesamten Stadtgebiet. Auf
der „Roten Liste“ der gefährdeten Tierarten Österreichs steht es an 1. Stelle. Auch international lt. IUCN Red List ist es als „vulnerable“, auf einer der höchsten Gefährdungsstufen gelistet und gilt als gleich stark vom Aussterben bedroht wie der afrikanische Elefant und der Löwe. Trotzdem hat ein Bescheid der Wiener Naturschutzabteilung vor dem Sommer grünes Licht für die Verbauung der Lebensräume der Ziesel beim Heeresspital in Wien Stammersdorf gegeben. Nach Meinung von Experten für europäische Naturschutzfragen verstößt dieser Bescheid gleich mehrfach gegen das europäische Artenschutzrecht (FFH-Richtlinien). In einem sogenannten Pilotschreiben fordert die Europäische Kommission nun eine Stellungnahme der Republik Österreich. Es droht ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Republik.
Fehlplanung kann Steuerzahler teuer kommen
Die Beschwerde bezieht sich unter anderem auf ein Gutachten von DI Wolfgang Suske, einem international anerkannten Experten für europäische Naturschutzfragen. Suske zum Projekt: „Ein Wohnbau auf diesen Flächen ist aus meiner Sicht europarechtlich nicht vereinbar. Das hätte man viel früher erkennen müssen. Schon die Flächenwidmung hätte so nicht erfolgen dürfen. Jetzt muss man die Notbremse ziehen. Sonst kann das dem Steuerzahler sehr teuer kommen.“ Konkret geht es um die Vernichtung von Lebensräumen des Ziesels und anderer geschützter Arten. Mit „Lenkungsmaßnahmen“ soll vorerst die Hälfte aller Ziesel zum „freiwilligen“ Verlassen ihrer Bauten gezwungen werden, danach sollen umgehend alle bisher genutzten Lebensräume zerstört werden, damit eine Rückkehr unmöglich ist.
Freiwillige Abwanderung des Ziesels fachlich und rechtlich undurchführbar
„Das ist völlig absurd. Die Ziesel leben jetzt auf einem optimalen Gebiet, das sie grundlos niemals verlassen würden. Sie hätten sich ja schon in den letzten Jahrzehnten auf die Wiesen östlich des Marchfeldkanals ausbreiten können, haben das aber nicht getan.“ erklärt Frau Dr. Friederike Spitzenberger, europaweit anerkannte Expertin für Säugetiere. Das ist offenbar auch den Projektbetreibern bekannt, denn sonst würden sie nicht planen, durch Abtragen der Oberschicht des Bodens die Gänge der Ziesel zu zerstören und damit eine Flucht der Nager auszulösen. „Eine solche Vorgangsweise verstößt massiv gegen die EU-Regeln zum Schutz der gefährdeten Arten. Das ist so, als würde ich bei einem Mietshaus im Winter alle Fenster entfernen, damit die Menschen ausziehen, obwohl sie ein Recht haben, zu bleiben. Das Ziesel hat auf diesen Flächen ein von allen EU-Mitgliedsländern getragenes Recht zu leben und sich fortzupflanzen. Das muss auch die Stadt Wien respektieren“, so Suske zu den geplanten Lenkungsmaßnahmen.
Artensterben in Europa bis 2020 stoppen
In Europa sollen indes bis 2020 keine Tier- und Pflanzenarten mehr aussterben. Denn rund ein Viertel der europäischen Tierarten - darunter Säugetiere, Amphibien, Reptilien, Vögel und Schmetterlinge - sind heute vom Aussterben bedroht. Der Mensch sei jedoch auf die Artenvielfalt angewiesen, sagte EU-Umweltkommissar Janez Potocnik vor zwei Jahren bei einer europäischen Biodiversitätstagung in Wien – ob es um unser Essen, Trinkwasser, frische Luft oder ein stabiles Klima geht. Die Artenvielfalt sei das ‚natürliche Kapital‘ der Menschen. ‚Wir verbrauchen es zu schnell‘. Nur 17 Prozent der untersuchten Lebensräume und Arten seien in guter Verfassung. In Europa sterben Arten in einem beispiellosen Tempo aus. Eigentlich wollte die EU das Artensterben bis Ende 2010 unter Kontrolle bekommen. Nun wurde bis 2020 die „Dekade der Biologischen Vielfalt“ ausgerufen. Bis dorthin soll das Artensterben in Europa gestoppt werden.
„Artenschutz beginnt vor unserer eignen Haustür“ so Lukas Mroz von der Bürgerinitiative IGL Marchfeldkanal. Bereits 12.000 Menschen haben für die unter Schutzstellung des Lebensraumes der streng geschützten Ziesel unterschrieben. Das drohende Artenschutzverfahren gegen die Republik Österreich kommentiert Mroz so: „Das ist zwar für Österreich überhaupt kein Ruhmesblatt, jedoch für uns ein Riesenerfolg. Schade, dass es soweit kommen musste. Wir hoffen, dass dies nun endlich zu einem Umdenken bei der Stadt Wien führt. Artenschutz muss einen hohen Stellenwert in Wien und Österreich haben!“
Viel Zeit bleibt der Stadt Wien jedenfalls nicht. Für die Beantwortung der Fragen aus Brüssel sind 10 Wochen vorgesehen. Noch in diesem Jahr erwartet man eine Klarstellung, ob die Europäische Kommission ein Verfahren gegen die Republik Österreich einleiten wird.
Über die zitierten ExpertInnen:
Dr. Friederike Spitzenberger, 1939 in Wien geboren, studierte Zoologie und Paläontologie in Wien. Sie leitete von 1966 bis 2004 die Säugetiersammlung des Naturhistorischen Museums Wien. Sie lehrte an den Universitäten Izmir/ Türkei und Salzburg. Zahlreiche Expeditionen führten sie in den Nahen Osten und nach Nordafrika. Schwerpunkte ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit sind Kleinsäuger der Türkei und Österreichs. Unter den etwa 130 Fachpublikationen befindet sich eine umfangreiche Bearbeitung der „Säugetierfauna Österreichs“, die 2002 erschienen ist.
Dipl.-Ing. Wolfgang Suske berät seit fast 15 Jahren Behörden, Interessensgemeinschaften, NGOs und Projektwerber in Fragen des europäischen Rechts. Er wirkte im Auftrag der Europäischen Kommission oder anderen öffentlichen Auftraggebern in nahezu allen neuen EU-Ländern mit, wenn es um die Implementierung des EU-Naturschutzrechts ging. 2009 hat er in Österreich den Leitfaden „Natura 2000 und Artenschutz“ herausgegeben, der bereits 2011 neu aufgelegt wurde und von zahlreichen Institutionen als Arbeitsgrundlage verwendet wird.
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