Jahreskreis 29 - 8: Sonnabendvormittag – Eröffnung der Elektrifizierung der Nordwestbahn

- In der Retzer Bahnhofstraße
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(von Christoph Altrogge)
Auf dem festlichen Bahnhof
Bis ans Ende der Bahnhofstraße zogen sich die Reisebusse entlang, mit denen Tagesgäste zum Fest angereist waren. Im Vorbeigehen studierte ich die Aufschriften auf den Karosserien. Wie ich feststelle, stammten die Fahrzeuge aus ganz Österreich.
Ich erreichte das Ende der Bahnhofstraße, streifte die Ecke zum Bahnhofsplatz rechterhand. Das Gelände des alten Tennisplatzes rechts zog vorbei. Wie immer standen zahlreiche Pkw auf der Park-and-Ride-Anlage darauf. Auch auf dem Parkstreifen hinter der Baumreihe links vom Fußweg war kaum ein freier Platz mehr zu finden.
Automatisch sah ich zum Fußweg mit den Bushaltestellenschildern auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Er war im Gegensatz völlig leer. Keiner der sonst dort anzutreffenden gelben Postbusse stand da gerade. Die Hecke an der Grenze zum Bahngelände wurde dadurch sichtbar. Mit ihr teilweise einige der dahinter abgestellten weiß-roten Personenwagen. Ein Stück weiter hinten befand sich auch wieder der Fahrradwaggon des Bahnhofs. Charakterisiert durch seinen blauen Anstrich mit dem riesigen, weißen Fahrrad-Piktogramm vorn drauf. Er stand wie gewöhnlich auf einem Gleisabschnitt in Richtung Landesbahnstraße. In seinem Hintergrund war bereits freies Feld zu sehen.
Ich verließ den Fußweg und überquerte den Bahnhofsplatz. Gegenüber betrat ich den überdachten Durchgang zwischen Stellwerk und Bahnhofsgebäude.
Eine Riesenanzahl Gäste hatte sich im Bereich der Bahnsteige bereits eingefunden. Am dichtesten war der Auflauf linkerhand auf dem Weg gleich hinter dem Bahnhofsgebäude. Bis zur Zollstation am Ende des Weges standen die Zuschauermassen. Auch unter der Überdachung am Anfang des Doppelbahnsteigs 1 und 2 hielten sich etliche Gäste auf. Überall dazwischen hingen von allen möglichen Stellen rot-weiß-rote Fahnen herab. Ein förmliches Fahnenmeer war entstanden.
Ich blieb zunächst am Rand des Metallzauns vor dem ersten Gleis stehen. Links neben mir ging es bereits über die mit Holzbrettern ausgelegten Gleise zu den Zügen. Einige Meter geradeaus, kurz vor dem Beginn der Bahnsteige 1 und 2, standen etliche Mitglieder des Gemeinderates: Stadtrat Wiesmann, Stadtrat Gruber, die Gemeinderätin Wolfsbauer, die Gemeinderäte Drohmer und Staudinger, der Kleinriedenthaler Ortsvorsteher Senkfrieden, sein Kleinhöfleiner Amtskollege und Weinbauverbandsvorsitzender Fürst, die Stadträte Pflügl, Gold und Stallmeier.
Mir kam die Idee, sicherheitshalber schon einmal die Kamera rauszuholen. Ich stellte die Tasche auf den Boden, öffnete sie, entnahm das Gerät und hängte es mir um den Hals.
Die Ehrengäste treffen ein
Eine ganze Weile war vergangen, als sich raschelnd die Lautsprechanlage einschaltete. "Meine Damen und Herren, der Sonderzug aus Wien trifft in Kürze Bahnsteig 2 ein", war gleich darauf zu hören. "Bitte Vorsicht am Zuge!"
Gleich darauf fuhr auch schon eine alte Dampflok um die Schienenkurve vor der Bahnübersetzung auf der Unternalber Straße. Dichte Rauchwolken stieß sie dabei aus.
Auf dem Doppelbahnsteig 1 und 2 war mittlerweile die Retzer Stadtkapelle angetreten. Sie begann in diesem Augenblick den "Ohne Rast"-Marsch zu spielen.
Fauchend und zischend fuhr die Lokomotive wenige Augenblicke später in den Bahnhof ein. Hinter sich zog sie etliche alte Waggons. Es waren jene Modelle, bei denen man noch ins Freie musste, wenn man von einem zum anderen gehen wollte.
Ohrenbetäubend zischend hielt die Lok neben dem Ende der Bahnhofsüberdachung. Riesige Wasserdampfwolken entwichen dabei ihrer gesamten Metallverkleidung.
Als der Zug schließlich völlig zum Stillstand gekommen war, gingen fast gleichzeitig an ihm überall die Türen auf. Die Gäste der Reisegruppe traten auf den Bahnsteig. Auch direkt neben mir wurde an der Führerkabine der Lok die Tür geöffnet. Ein Schaffner in einer alten k.u.k-Dienstuniform stieg aus. Durch die halb geöffnete Tür fiel der Blick ins Innere der Kabine. Auch der Zugführer trug eine Uniform aus der k.u.k.–Zeit, wie ich erkennen konnte.
Ich drehte mich wieder in Richtung des auslaufenden Bahnsteigs. In einigen Metern Entfernung sah ich mehrere Politiker auf mich zukommen. Den Klubobmann der SPÖ im niederösterreichischen Landtag, Hannes Bauer. Landeshauptmann Erwin Pröll. Und den Bundesverkehrsminister Viktor Klima. Im Tross der Politiker befanden sich etliche Parteifunktionäre aus den darunterliegenden Hierarchieebenen und auch ein paar Pressefotografen.
Die Gruppe zog an mir vorüber. Sie blieb dann vor der Stadtkapelle stehen, um ihr Spiel abzuwarten.
Das Musikstück war zu Ende. Die Zuggäste auf dem Bahnsteig, allen voran die beiden Spitzenpolitikern, zollten Beifall.
Stadtrat und SPÖ-Ortsvorsitzender Pflügl trat an die fast unsichtbare Sprechanlage, die in einem der Masten der Überdachung installiert war. Einen Moment später kündigte er an: "Meine Damen und Herren, bevor wir jetzt in die Stadt gehen, möchte der Bürgermeister der Stadt Retz, Hofrat Dipl.-Ing. Adolf Schehr, zu Ihnen ein paar Worte sagen."
"Werte Gäste aus der Bundeshauptstadt Wien. Namens der Stadtgemeinde darf ich Sie auf das Herzlichste hier in der Weinstadt Retz willkommenheißen. Es freut mich, dass Sie heute den weiten Weg zu uns unternommen haben. Und ich denke, dass das abwechslungsreiche Programm des 40. Retzer Bezirksweinlesefestes es auch lohnen wird. So erwartet sie unter anderem auf dem Hauptplatz ein Hauermarkt mit traditionellen Speisen und Getränken aus der Region. Der Höhepunkt dieser Tage wird unser Winzerfestzug mit vielen Darstellungen aus der Retzer Geschichte sein. Empfehlen kann ich Ihnen auch eine Besichtigung der zahlreichen anderen Retzer Sehenswürdigkeiten. So verfügt Retz zum Beispiel über den größten unterirdischen Weinkeller Österreichs. Ebenso über die einzige noch betriebsfähige Windmühle unseres Landes. Nähere Auskünfte dazu werden Ihnen unsere Stadtführer erteilen.
Die Abfahrt Ihres Zuges erfolgt genau um 16:50 Uhr. Ich darf Sie bitten, pünktlich wieder hier am Bahnhof zu erscheinen, denn der Zug wartet nicht. So bleibt es mir nur noch, Ihnen allen einen recht schönen und abwechslungsreichen Aufenthalt in unserer Stadt zu wünschen. Ich danke Ihnen."
Beifall antwortete.
Ein paar Meter von mir entfernt stand der bärtige Stadtführer Fichna aus der Windmühlgasse. Er hob die Hand und rief mit lauter Stimme: "Gruppe A bitte zu mir!"
Der Festakt
Schließlich hatte auch die letzte Gruppe Touristen mit ihrem Stadtführer den Bahnhof verlassen. Bürgermeister Schehr wurde daraufhin von irgendjemandem das Mikrophon in die Hand gegeben. "Meine sehr geschätzten Damen und Herren, ich darf Sie alle sehr herzlich hier am Bahnhof Retz zur feierlichen Eröffnung der Elektrifizierung der Bahnstrecke Wien-Retz begrüßen. Ganz gleich, ob Sie dienstlich oder privat gekommen sind. Ich freue mich, dass so viele Vertreter aus allen Teilen der Bevölkerung zu diesem Ereignis erschienen sind. Zeigt es doch, wie hoch unter der hiesigen Bevölkerung die Anteilnahme an dem ist, was die Allgemeinheit betrifft. Und es ist für Retz und die Region tatsächlich ein sehr wichtiges Datum. Haben wir mit dem heutigen Tage doch nun endlich nach vielen verschiedenen Schwierigkeiten eine durchgehend elektrifizierte Bahnstrecke von Wien nach Retz.
Bekanntlicherweise ist der Anteil derjenigen unserer Bewohner, die nach Wien oder einer der davorliegenden größeren Städte, wie Hollabrunn, Stockerau oder Korneuburg, auspendeln, von jeher sehr hoch. Und für diese Bewohner unserer Region wurde nun ein Stück mehr Lebensqualität geschaffen. Ab dem heutigen Tag ist die Fahrt nach Wien um 20 Minuten kürzer. Was bedeutet, dass man nun mit einem Schnellzug in nur geringfügig mehr als einer Stunde von Retz in das Zentrum von Wien gelangen kann. Wie wir alle wissen, ist das Arbeitsplatzangebot in unserer Region nicht sonderlich hoch. So wollen wir zumindest erreichen, dass Wohnen auf dem Lande und Arbeiten in der Stadt kein Widerspruch darstellt. Mehr noch, wir haben den Ehrgeiz, die zurzeit herrschende Abwanderung aus unserer Gegend in die Bundeshauptstadt u m z u k e h r e n. Bewohner von dort von der Lebensqualität zu überzeugen, die nur eine ländliche Region wie unsere bieten kann. Und mit diesem Projekt, das ich die Ehre habe, heute zu eröffnen, hat man uns zu diesen Plänen das wohl wichtigste Mittel in die Hand gegeben. Denn wenn man die Verhältnisse in der Wiener Innenstadt kennt, dann weiß man, dass täglich eine Stunde Weg zum Arbeitsplatz nichts Ungewöhnliches sein kann. Und wenn uns das Schicksal günstig gesonnen ist, werden wir weitere technische Innovationen in die Hände bekommen. Innovationen, die es uns ermöglichen, auf dieser Strecke die Fahrzeit noch weiter herunterzuschrauben. Und dann wird irgendwann hoffentlich einmal fast kein Unterschied mehr darin bestehen, täglich von einem der Hochhäuser am Rande Wiens oder von Retz aus den Weg zu seinem Arbeitsplatz anzutreten.
Unter unseren Ehrengästen, die heute den Weg zu uns in die Weinstadt Retz gefunden haben, begrüße ich ganz besonders den Verkehrsminister der Republik Östereich, Mag. Viktor Klima!"
Beifall.
"..."
Die übliche lange Reihe von Begrüßungen war gefolgt. Danach schloss sich ein Bericht des Bürgermeisters an. Er beinhaltete Details der Durchführung des Projektes. Ich hatte die Mappe mit den Notizzetteln bereits während der Begrüßungen herausgenommen, sodass ich gleich mitschreiben konnte.
Im Juni 1992 wurde mit der Elektrifizierung der 30 Kilometer langen Strecke von Hollabrunn nach Retz begonnen, schrieb ich als Erstes auf. Elektrifizierungen im Bereich um Wien existierten schon lange Zeit zuvor. Vier Brücken wurden zwischen Hollabrunn und Retz adaptiert oder neu errichtet. Sieben Eisenbahnkreuzungen aufgelassen. In allen Stationen gibt es jetzt Mittelbahnsteige. Die Gesamtkosten des Unternehmens betrugen 667 Millionen Schilling, finanziert von der Republik. Auf jedem Bahnhof des neu elektrifizierten Streckenabschnitts gab es am heutigen Tage Feierlichkeiten. Der Sonderzug hat somit überall kurz Station gemacht.
Eine gewohnt ziemlich lange Rede von Landeshauptmann Pröll hatte sich den Eröffnungsworten angeschlossen. Anschließend eine des Verkehrsminsters. Von jedem der Redner hatte ich auch ein paar Aufnahmen gemacht. Nach dem Verkehrsminister übernahm der Bürger-meister, der jeden der Redner ankündigte, wieder das Mikrophon. Er gab bekannt, dass er im Anschluss Klubobmann Bauer den Ehrenring der Stadt Retz überreichen werde. Und dazu einen Schlüssel für eine Weinbox in der Althofvinothek. Es geschehe dies im Auftrag des Gemeinderates, ein dementsprechender, einstimmig verabschiedeter Beschluss sei vorangegangen. Man wolle, so Schehr, Anerkennung zeigen. Anerkennung für die viele, viele Basisarbeit, die Bauer unbeachtet im Hintergrund für das Zustandekommen dieser Elektrifizierung geleistet habe.
In seiner Dankesrede propagierte Bauer dann vehement die Weiterführung der Elektrifizierung nach Znaim. Mitten in der Rede tat sich auf dem Gleis nach Drosendorf ein Stück weiter links etwas. Dort stehende Mitglieder der Eisenbahnergewerkschaft begannen ein Transparent zu entrollen. Nach wenigen Augenblicken war es vollständig aufgerollt. Es war ein an zwei Stäben befestigtes, von Hand gestaltetes Leintuch-Transparent. Mit Farbe stand auf ihm eine Danksagung an Bauer geschrieben: "Hannes, guat hoast dös g'moacht!"
Nach der Dankesrede von Bauer trat Bürgermeister Schehr abermals ans Mikrophon. "Ausklingen lassen möchten wir diese feierliche Stunde nun", gab er bekannt, "mit etwas Besinnlichem. Und zwar waren die Mitarbeiter unserer Gemeinde in den letzten Wochen sehr fleißig. Sie haben intensiv nach einem kurzen Stück Literatur gesucht, das auf irgendeine Weise zu dieser Bahnstrecke, zu diesem heutigen Ereignis passt. Und sie sind fündig geworden. Womit genau, davon können Sie sich nun im Anschluss überzeugen.
Der Bürgermeister trat in die zweite Reihe zurück. An seiner Stelle übernahm ein mir nicht bekannter Mann das Mikrophon.
"Walter Kainz
Nordwestbahn …"
Nach etwa zehn Strophen endete das Gedicht. Beifall ertönte. Besonders gefallen hatte mir an dem Text, dass er in starkem Maße auf den einstmals grenzüberschreitenden Charakter dieser Bahnlinie einging. Ein Punkt, der heute leider weitestgehend in Vergessenheit geraten zu sein schien, dachte ich abschließend.
Noch während der Rezitation waren Bürgermeister Schehr und Stadtamtsmitarbeiter Körberl an die Ehrengäste herangetreten. Körberl hielt eine Pappschachtel mit zwei Magnumflaschen in den Händen. "Bevor wir nun in den Althof gehen, wo bereits ein Essen auf uns wartet", ergriff der Bürgermeister noch einmal das Wort, "darf ich dir, Herr Verkehrsminister, und auch dir, Herr Landeshauptmann, als kleines Dankeschön für die Mühen, die mit diesem Projekt verbunden waren, je eine Magnumflasche Roten Veltliner überreichen."
Körberl trat mit dem Wein zunächst auf Klima zu. Irgendwelche Kommentare folgten, die ich akustisch nicht verstand, da sie nicht übers Mikrophon gingen. Der Bürgermeister überreichte dann eine der zwei Flaschen an den Verkehrsminister.
Ich gab den zwei Politikern ein Winkzeichen, dass sie mal zu mir in die Kamera sahen. Auch Hermann Neumayr tauchte wieder neben mir auf und fotografierte ebenfalls.
Danach bekam der Landeshauptmann sein Präsent. Ich fotografierte auch wieder die Übergabe.
Klima lachte, zeigte auf Prölls Flasche und meinte: "Das freut den Pröll, dass er einen Roten vernichten kann."
Pröll konterte: "Man merkt, der Minister ist kein Weinfachmann, sonst wüsste er, dass der Rote Veltliner ein Weißwein ist."
Vom Retzer FPÖ-Gemeinderat kam es aus dem Hintergrund: "Dabei wird der Rote Veltliner aus blauen Trauben hergestellt."
Alle lachten.
Der offizielle Teil war damit vorüber. Die Versammlung der Ehrengäste löste sich auf.
Nachdem Klubobmann Bauer ein paar Schritte in Richtung Bahnsteig gegangen war, zeigte er auf die Betonmasten der Stromleitungen und scherzte: "Sechts, es san do kane Wäschestangerln wuadn. Doamois, ois de easchtn poa Dinger doavuan aufstöllt wuadn san, hoabts es in Retz joa gmahnt: Doa spoannt da Bauer doann Leinen doazwischn un hängt sei Wäsch droan auf, wäü kumman tuat de Elektrifizierung eh nie bis auf Retz. 's nächste Moi spring i eich ins Gsicht, wauns sowoas soagts!"
Alles lachte.
Das Rahmenprogramm
Unbemerkt war es früher Nachmittag geworden. Ich hatte mich zunächst bis zu einem ÖBB-Öffentlichkeitsarbeitsbeauftragten durchgefragt. Dieser gab mir dann eine vorbereitete Pressemappe mit Unterlagen über das Ereignis. Danach hatte ich begonnen, mir die für den Festbetrieb bereitgestellten Eisenbahnwaggons anzusehen. Gleich etliche geschlossene Güterwaggons befanden sich auf dem Gleis direkt hinter dem Bahnhofsgebäude. In ihren Innneren fanden mehrere Rahmenprogramme zu dem Festakt statt. Mobile Holztreppen waren vor den geöffneten Schiebetoren der Wagen aufgestellt worden.
Gleich vor dem ersten Waggon standen zwei durch ein Gerüst verbundene alte Fahrräder. In ihrer Mitte war ein Schild eingebaut worden. In alten deutschen Buchstaben stand darauf die Aufschrift zu lesen: "Ausstellung 'Das alte Fahrrad'". Es machte aufmerksam auf die sich über gleich mehrere Waggons erstreckende Ausstellung der Sammlung historischer Fahrräder des Retzer Mechanikers Fritz Kurtl. Für die er ja schon seit Langem ein dauerhaftes Museum suchte, erinnerte ich mich.
Ich stieg die kleine Leiter zum ersten Waggon hoch. Alle möglichen alten Fahrräder standen in ihm. Vorn dran befand sich jeweils eine kleine Tafel, auf der der Typ und ein paar technische Daten zu lesen waren.
Gleich links neben dem Eingang fielen mir an der Wand nebeneinander etliche Rahmen auf. Historische Fahrrad-Werbeplakate befanden sich in ihnen. Ganz am Anfang hing die Reklame einer Fahrradhandlung und –reparaturwerkstatt in Znaim. Sie war auf Deutsch verfasst und stammte aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Damals waren deutschsprachige Aktivitäten in der Gegend hinter der Grenze ja noch etwas völlig Alltägliches, dachte ich. So alltäglich, dass sich noch fast keiner irgendwelche Gedanken darüber machte. "Größte Fahrradhandlung u. mechan. Reparatur-Anstalt Znaim's", war auf dem Plakat zu lesen. Darunter hieß es: "Feuer-Emaillirung. Inhaber: Karl Wokřina in Znaim. General-Vertreter der Waffenräder, Styria, Meteor, Helios, Graziosa (kettenlos), Cleveland, Columbia, Humber. Rad-Depôt: Füttergasse Nr. 7. Mechanische Reparatur-Anstalt: Ottokarplatz Nr. 3. Erste Znaimer Radfahr-Schule."
Eine Postwertsachenschau des örtlichen Briefmarkensammlervereines schloss sich in den darauffolgenden Wagen an. In ihr hatte man auf sehr anschauliche und übersichtliche Weise den Niederschlag regionaler Geschichte in der Philatelie dokumentiert. Anlässlich des Tages natürlich mit dem Schwerpunkt Nordwestbahn.
Im letzten Wagen befand sich dann ein Original-Fahrtentrainer der ÖBB, an welchem Zugführer ausgebildet werden. Dort brachte ich eine ganze Weile an dem Gerät zu.
Nordwestbahn annodazumals und heute
In der Pressemappe, die ich von dem ÖBB-Öffentlichkeitsarbeitsbeauftragten bekommen hatte, befanden sich auch geschichtliche Fakten. Beim Fahrtentrainer kam mir die Idee, damit einen Extra-Artikel zu schreiben. Ich beschloss, dies gleich anschließend an einen der Außentische des Bahnhofslokals zu tun.
Auf dem Weg gleich hinter dem Bahnhofsgebäude kam ich an einem Info-Tisch vorbei. Er stand linkerhand an dem kleinen Metallzaun vor den Gleisen. Alle möglichen Informationsmaterialien der ÖBB lagen auf ihm. Unter anderem stand darauf auch ein Glas mit lauter Kugelschreibern im ÖBB-Design. Ich tat im Vorbeigehen einen ordentlichen Griff hinein. Mein Verbrauch an Stiften war seit meinem Einstieg in die Pressetätigkeit enorm in die Höhe geschnellt.
Kurz nachdem ich mich an einen der weißen Plastiksessel gesetzt hatte, tauchte Herr Hammerschmidt auf. Wie er schon auf dem Weinkulinarium am Abend zuvor angekündigt hatte, befand er sich nicht im "Weinschlößl". Stattdessen kellnerte er wegen des zu erwartenden Gästeansturms in dem ebenfalls von ihm geleiteten Bahnhofslokal selber mit. "Grüß Gott!" rief er mir bereits im Gehen zu. "Woas deafs sein?" erkundigte er sich dann bei mir am Tisch.
"Ein Krügerl, bitte."
Kurze Zeit später bekam ich das gewünsche Halb-Liter-Glas Bier vor mir auf den Tisch gestellt. Ich zog den Reisverschluss vom hintersten Fach der Pressetasche auf, die neben mir auf dem Boden stand. Nach ein paar Sekunden hatte ich die Mappe auch schon gefunden. Ich legte sie auf den Tisch, schlug sie auf und entnahm die Unterlagen mit den Fakten über die Geschichte der Nordwestbahn. Es waren drei zusammengeheftete Blätter, wie ich gleich darauf feststellte. Ich begann den Text zunächst einmal zu überfliegen: "Die Strecke von Wien nach Stockerau bestand bereits seit dem 26. 6. 1841. (...) Im Jahre 1861 stellte die Stadt Retz ein Ansuchen an die Regierung in Wien, dass die Bahn von Stockerau über Retz weitergebaut werde. (...) 1866 wurde ein persönliches Gesuch an Kaiser Franz Josef gerichtet. (...) Mit Gesetz vom 1. 6. 1868 wurde der Bau der Strecke Wien-Znaim beschlossen. (...) 1869 begann man mit dem Bau der Thaya-Brücke vor Znaim. (...) 1870 wurde der Nord-West-Bahnhof in Wien errichtet und ein Jahr später der Verkehr bis Znaim aufgenommen. (...) Die Flügelbahn Zellerndorf-Sigmundsherberg war bereits 1872 eröffnet worden. (...) Am 1. 12. 1882 wurde die Haltestelle Unterretzbach eröffnet. (...) Die Strecke Retz-Drosendorf ging 1910 in Betrieb. (...) Ende 1915 passierte der Balkanzug auf seiner Strecke von Berlin über Dresden, Znaim und Wien nach Istanbul auch Retz."
Ich lehnte mich zurück und legte den Stift aus der Hand. Nachdem ich mich mit allen Fakten vertraut gemacht hatte, war der Artikel so schnell entstanden, dass das Plastik des Stiftes regelrecht glühte.
Ich setzte mich schließlich wieder auf, nahm den Artikel zur Hand und begann ihn zur Kontrolle noch einmal durchzulesen: "Wenn man heute von der Nordwestbahn spricht, meint man meistens die Strecke von Wien nach Retz. In der Regel steht dabei ein Problem des Pendlerverkehrs zur Debatte. Unter diesem Gesichtspunkt ist es nur noch schwer vorstellbar, dass gerade die Nordwestbahn während ihrer Blütezeit bis nach Sachsen verkehrte.
Geld und Kreditmangel zwangen den Staat in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, seine vorhandenen Eisenbahnlinien wieder an private Gesellschaften zu verkaufen. Jedoch verhielten sich diese sehr zögerlich mit dem Bau neuer betriebs- und volkswirtschaftlich wichtiger Strecken. So wurde Ende der Sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts auf Vorschlag des Finanzministers Dr. Brestl die Zinsbürgschaft für Privatbahnen eingeführt. Der Staat verpflichtete sich dabei gegenüber den Aktionären, die Spanne zwischen dem garantierten Zinsfuß und dem tatsächlichen Ertrag zu leisten. In der Folge entstanden nacheinander die Kronprinz-Rudolfsbahn, die Kaiser-Franz-Josefs-Bahn sowie die Nordwestbahn. Ihre Errichtung wurde vor allem durch liberale nordostböhmische Großgrundbesitzer forciert.
Dem Ersten Weltkrieg folgte der politische Zusammenbruch der Donaumonarchie. Mehrere Nachfolgestaaten entstanden, welche ihr Erbe an Bahnlinien aus kaiserlichen Zeiten nach ihren Bedürfnissen umstrukturierten. Die Bedeutung der Nordwestbahn sank rasch zugunsten der Westbahn ab. Um die Verwaltung der im Besitz der I. Republik verbliebenen Bahnnetze kümmerten sich nun die Bundesbahnen Österreich (BBÖ). Ihre Tätigkeit endete abrupt mit dem Anschluss an Hitler-Deutschland im Jahre 1938. Sämtliche Befugnisse gingen an die Verwaltung der Deutschen Reichsbahn in Augsburg über.
Nach Ende des Krieges wurde der grenzüberschreitende Verkehr nach Znaim nicht mehr aufgenommen. 1952 stellte man dann auch noch den Zugverkehr nach Unterretzbach ein, womit Retz zur Endstation wurde. Erst die Grenzöffnung im Jahre 1989 gab der Nordwestbahn die Chance, wieder das zu werden, was sie zur Zeit ihrer Gründung war: Eine europäische Verkehrsverbindung."
War ich mit meinem Schlussstatement über die europäische Verkehrsverbindung vielleicht etwas zu euphorisch gewesen? überlegte ich. Der momentane Zustand sieht ja alles andere als danach aus. Einen fließenden Durchgangsverkehr gibt es nicht, lediglich einen Pendelzug über gerade mal drei Stationen. Der Zug, der diese Aufgabe wahrnimmt, ist sicherlich dazu geeignet, helle Freude bei Eisenbahnromantikern auszulösen. Jedoch meilenweit davon entfernt, ein dem technischen Niveau des beginnenden 21. Jahrhunderts entsprechendes Verkehrsmittel zu sein. Und die Benutzung dieses Fahrzeuges, dessen Stärke bereits mehr im kulturhistorischen als im infrastrukturellen Bereich liegt, war bis zu Beginn dieses Jahres überdies nur Österreichern und Tschechen vorbehalten. Eine Tatsache, die man in einer Zeit, in der Politiker aller Strömungen in einer Tour "Europa, Europa, Europa" krakeelen, ja als sehr kurios bezeichnen muss. Da fragt man sich schon, wie ernst dieses Geschrei eigentlich gemeint ist, wenn Europa in der Praxis bereits an so kleinen Dingen scheitert.
Wenn man im Vergleich dazu an die Gründer dieser Bahn denkt, überlegte ich, das müssen noch Männer mit Visionen und Pioniergeist gewesen sein. Und heute, da liegt die Verantwortung für diese Linie in den Händen von minimalistischen, mit Blindheit geschlagenen, bürokratischen Erbsenzählern. Die überhaupt nicht erkennen, welch ungeheure Möglichkeiten sich auftäten, wenn man an diese alten Traditionen wieder anknüpfte. Im Gegenteil. Ohne Kämpfer auf einsamer Front wie zum Beispiel Bauer wäre die Situation dieser Bahnlinie ja sogar im österreichischen Inland noch sehr viel schlechter.
Ich lasse den Schluss so, entschied ich mich schließlich. Bloß weil sich andere nicht trauen, über den Tellerrand hinauszuschauen, muss man ja noch lange nicht dasselbe tun.
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