Strandgut - Ein Denkzettel
Strandgut
oder: die Sintflut liegt vor uns
Eine Betrachtung von G. O. Gschwandler
Es ist schon gemein so geweckt zu werden. Dieses Rauschen im Ohr, das nichts Gutes vermuten lässt. Man rappelt sich auf, vertreibt den schalen Geschmack des Gestern mit einem Maul voll humanitärem Pathos und blickt, schmaläugig durchs kleinste Fenster das man findet, auf die grosse, weite Welt - und erstarrt. Das was da kommt sieht übel aus. Es erscheint zu gross, zu gewaltig und so unkontrollierbar, dass es nur einen Schluss geben kann: Es ist nicht wirklich!
Das denken sich auch unsere politischen Kleiderständer. Die, welche wir selbst, auch durch Unterlassung, in den parlamentarischen Kleiderschrank gewählt haben, damit sie ein wenig Ordnung halten. Sie stehen vor besagtem Fenster, jeder vor dem seinen und wundern sich ob der herannahenden Springflut. Man tritt zunächst einen Schritt zurück, wartet ab, geht in sich und fühlt sich wohler dabei, dann noch einen Schritt zurück in die Richtung, aus der man eben noch kam, und noch einen, immer besser fühlt es sich an im Herz und im Bauch. Am Ende landet man im lauen Bett, die Decke über den Kopf geworfen und wärmt sich an den Gedanken an bessere Zeiten. Aber man ahnt, man muss noch einmal aufstehen. Es ist wie die volle Blase am Morgen. Man zögert es hinaus, verdrängt beharrlich und scheitert am Ende. Weil die Natur Macht über uns hat, egal wess Geistes Kind wir sind.
Auch ausserhalb des Kleiderschrankes und des Politikerbettes erwacht man neuerdings. Aber nicht ganz so schweigsam, dennoch kleinlaut und verunsichert. Hie und da schämt man sich sogar des einen, optimistischen Plakates, das einen noch Wochen zuvor als besseren Menschen ausgewiesen hat. Hat man sich wirklich so getäuscht? Hat man da Nullen und Kommastellen fehlinterpretiert und ging es vor kurzem noch um zehn oder hundert Plätze für die Geflohenen, so spricht man jetzt von Zehntausenden?! Wie ist das möglich? Man fühlt sich genashornt und ahnt dass der Beifall, welchen man der ersten, zaghaften Welle von Neuankömmlingen gespendet hat jetzt nicht mehr ausreicht. Er geht schon jetzt im Rauschen des nahenden Tsunamis unter! Man wünscht sich vielleicht sogar jemand anderer zu sein, als der zu dem man sich gemacht hat. Aber es ist zu spät!
Dann schnell weg vom Fenster! Sich einigeln. Warten bis der Sturm vorbei zieht. Hoffen dass die Dämme halten, so es denn welche gibt. Nachdenken über die Mitschuld die eigene. Und hoffen dass es enden möge! Nein, besser noch, man vertraut auf eine Lösung, auf ein Ding das man nicht benennen kann, aber auf etwas Gutes und Schönes und dass es genug Boote gibt auf der stürmischen See! Man hofft auf ein neues Miteinander! Jetzt könnte sich doch alles richten und man wäre mit dabei, Zeitzeuge sozusagen, wie damals beim Fall der Mauer, den man leider nur im Fernsehen miterleben konnte! Jetzt könnten sich die Staaten und die Menschen, aus denen sie gemacht sind, also auch einem selbst, zusammenfinden und eine neue Form bilden! Jetzt wäre da kein anderer Feind, als die Armut und das Leid der Anderen! Und gegen dieses Leid könnte man sich verbünden, Schulter an Schulter sein, einen Kampf führen, der Gerechtigkeit und Wohlstand, der Rettung und Sicherheit für alle, auch für die eigene Seele zum Ziele haben könnte! Ja, die Seele! Die, die man verkauft, verpfändet hat und alles dafür bekommen hat nur keine wahre Ruhe oder heitere Gelassenheit! Jetzt könnte man sich von der kapitalistischen, ausbeuterischen Ursünde lösen, und jenen ein wenig von dem zurück geben, was man ihnen zuvor geraubt hat! Ja, zuvor geraubt hat, oder rauben ließ um den eigenen Wohlstand zu begründen. Was für ein Ablass! Wenn man jetzt diese Chance nur nutzt! Dann könnte sich auch die hohe Politik gegenseitig beglückwünschen und umarmen vor laufenden Kameras und sich feiern! Und es nötigt so eine Feier!
Eine Feier und eine Tat zuvor. Mit Einschränkungen versteht sich. Denn zuvor bräuchte es ein unangenehmes Regelwerk. Das ist besser, als ein Auszählreim. Aber niemand wird dieses Aussortieren verantworten wollen. Da stösst einem doch die Vergangenheit sauer auf, so man sie noch in sich trägt - und dieser Virus schläft ja nur, und wartet, darin ist er trainiert, das weiss man, darin liegt Gefahr! Also besser sich zurückhalten. Die Vision des grossen, brüderlichen Sieges, des besternten Europas aufschieben. Zunächst das Elend verwalten. Muss man ja. Trägt man doch Mitschuld. Also nochmal raus aus dem Bett. Einmal noch sich aufraffen und vor die Kameras schlurfen. Die Augen noch voller Schlaf, die Stimme heiser, der Körper noch lasch und das Herz ohne echte Zuversicht.
Also, sich zusammennehmen, für fünf oder zehn Minuten Berichterstattung, sich zusammenreissen für fünf oder zehn unangenehme Reporterfragen. Sich wiederholen, Fünf oder zehn Mal, oder mehr. Egal. Durchhalten. Sich sagen was man ist. Und es glauben wollen. Die Unfähigkeit weiter reichen wie eine Fackel, die das Hier und Jetzt nur ein klein wenig heller macht. Sich widersprechen und die Verantwortung in kleinen Bissen an die anderen verfüttern. Sich noch ein wenig loben, dafür dass man aufgestanden ist, dass man hier ist, dass man ja willig ist.
Dann rasch zurück ins Bett. Die Decke über den Kopf ziehen, die mit den goldenen Sternchen drauf. Die Beine anwinkeln und sich klein machen. Auf die Wärme warten. Hundebaby sein.
Realität und Traum vermischen sich sanft. Der Herr Bundeskanzler seufzt. Sein Atem ist ruhig. Er lächelt und träumt sich fort in eine Welt, in der die Sintflut so weit vor uns liegt, dass sie kaum mehr ist als ein sanftes, beruhigendes Rauschen. Er ist wie das Strandgut - von irgendwo angespült, müde, unfähig sich von alleine zu bewegen und vor allem fremd.
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