Warum Berührung so wichtig ist
"Mama, streichelst du mich ein bisschen?“ – „Opa, kann ich mich zu dir auf den Schoß setzen und du erzählst mir eine Geschichte?“ Für Kinder ist es selbstverständlich, Berührungen und Körperkontakte einzufordern. Sie kommen zu den Eltern kuscheln oder drücken vertraute Menschen ganz spontan. Dieses Verhalten löst bei allen Beteiligten unwillkürlich Glücksgefühle aus – ein Beweis dafür, dass Berührungen nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene wichtig sind.
Berührungen haben nicht nur Auswirkungen auf unser Seelenleben, wir brauchen sie, um gesund zu bleiben. Ein Mangel führt zu Stress, hohem Blutdruck und schwächt das Immunsystem.
Umarmungen sind selten geworden
Doch in unserer Gesellschaft sind Berührungen unter Erwachsenen selten geworden. „Unsere Finger berühren eher Handy, Touchscreens und Fernbedienungen als Haut“, sagt der Arzt und Physiologe Cem Ekmekcioglu, Professor an der Medizinischen Universität Wien. Er forscht seit Jahren auf diesem Gebiet und hat nun ein Buch über die zunehmende Berührungsarmut in unserer Gesellschaft und den gesundheitlichen Faktor von angenehmen Körperkontakten geschrieben. „Es ist Zeit, auf dieses Manko hinzuweisen“, sagt Ekmekcioglu.
Denn die Tatsache, dass viele Menschen ihre sozialen Kontakte hauptsächlich online pflegen, führe zu einer Berührungsverarmung und zu Einsamkeit. „Aber ohne angenehmen Körperkontakt und regelmäßige Streicheleinheiten trocknen wir aus wie eine Pflanze und verkümmern mit der Zeit“, sagt der Arzt und liefert auch gleich die medizinische Erklärung dazu: „Die Haut steht in ständigem Kontakt mit dem Gehirn, das stets Reize aus der Umwelt verarbeitet. Wird das Gehirn zu wenig mit wohltuendem Input wie sanften Berührungen versorgt, entwickelt es Störungen.“ Dies mache uns anfällig für Krankheiten, die typisch für Industriestaaten seien. Dazu gehöre nach Ansicht Ekmekcioglus die verstärkte Neigung zum Burnout in unserer Gesellschaft. Berührungsarmut führe unweigerlich zu einer Stressreaktion des Körpers, mehr Cortisol werde ausgeschüttet, der Blutdruck steige und das Immunsystem werde geschwächt.
Vernachlässigte Kinder
Wie dramatisch sich ein Mangel an positiven Berührungen auswirkt, zeigen Studien über Waisenkinder. Demnach haben elternlose Kinder, die adoptiert werden und damit mehr Zuneigung von vertrauten Personen bekommen als nicht adoptierte Kinder, deutliche bessere kognitive Fähigkeiten. Sie sind aufmerksamer, kreativer und lernen schneller. Der in die USA emigrierte Deutsche Kinderarzt René Spitz beobachtete bereits in den 1940er Jahren, dass mehr als 30 Prozent der Säuglinge, die ihre Eltern verloren hatten und in Waisenhäuser kamen, innerhalb ihres ersten Lebensjahres starben. Spitz sprach in diesem Fall von „emotionalem Verhungern“. Denn Säuglinge, die keinen Körperkontakt bekommen, neigen zu Appetitlosigkeit und sind infektionsanfällig.
„Wir alle, die in den Industriestaaten durch unser Leben hetzen, sind Teil einer Gesellschaft, die an chronischem Berührungsmangel leidet“, behauptet der Wiener Mediziner Cem Ekmekcioglu. Viele Menschen, die als Singles leben, würden zwar Menschen im Berufsleben Tag für Tag die Hände schütteln, sanfte Körperkontakte bekämen sie jedoch kaum. Aber auch Männer und Frauen in festen Beziehungen würden häufig an Berührungsmangel leiden. „In Partnerschaften wird die Körperlichkeit oft auf Sexualität reduziert“, sagt der Arzt. Dabei seien liebevolle Kontakte im Alltag mindestens genauso wichtig. Viele Ehen würden massiv unter dem Mangel an gelebter Zuneigung leiden – oft ohne, dass sich die Eheleute dieses Mankos bewusst seien. Dabei wäre es gar nicht so schwer, im täglichen Leben mehr angenehme Körperkontakte zu bekommen. Die besten Lehrmeister dafür sind Kinder.
1. Sie machen kein Hehl aus ihrem Bedürfnis nach Zuwendung und fordern diese offen ein. Sie setzen sich beim Vorlesen ganz selbstverständlich auf den Schoß von Eltern oder Großeltern. Und vor dem Einschlafen bestehen sie auf Streicheleinheiten.
2. Lernen können wir Mitteleuropäer auch von Kulturen, die berührungsfreudiger sind, so etwa von den Lateinamerikanern und Südeuropäern. Sie umarmen einander häufig, auch im Gespräch berühren sie einander deutlich öfter als wir. Menschen in diesen Ländern gelten deshalb als besonders warmherzig.
3. Senioren sind von Berührungsmangel besonders oft betroffen. Franz Kizler, Lehrer an der Schule für Krankenpflege in Niederösterreich, sagt: „Die Berührungsqualität ändert sich im Laufe des Lebens. Kinder werden gerne geknuddelt, alte Menschen kaum. Kommen sie ins Pflegeheim, steht die medizinische Versorgung im Vordergrund. Es mangelt an liebevoller Berührung.“ Dabei hätte diese nachweislich positive Effekte für die Gesundheit: Sie verbessert zum Beispiel Herzschlag und Kreislauf.
4. Wenn man gemeinsam gegen Rivalen kämpft, gehen die Emotionen hoch, und damit fallen auch Berührungshemmungen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Torjubel bei Fußballspielern.
Buchtipp
Studien fördern es immer deutlicher zutage: Berührungen haben erstaunliche Auswirkungen – nicht nur auf unser Seelenleben, sondern auch auf unsere Gesundheit. Im Buch „Drück mich mal!“ beschreibt der Wiener Arzt Cem Ekmekcioglu, (Westend-Verlag, 20,60 €), warum Berührungen so wichtig sind.
Zitiert
"Ein wahrer Freund ist derjenige, der deine Hand hält und dein Herz berührt.“
"Das wahre Maß für das Gelingen im Leben eines Menschen ist die Zunahme von Zärtlichkeit und Reife.“
"Unsere Finger berühren eher Handy und Computertasten, Touchscreens und Fernbedienungen als Haut.
Die schnelllebige Onlinegesellschaft fordert ihren Tribut.“
Cem Ekmekcioglu, Arzt, Physiologe und Professor an der Medizinischen Universität Wien
"Der Mangel an positiven Berührungen verursacht bei Kleinkindern nachweislich schwere neurologische Störungen und Defizite im Gehirn.“
"Humor, Zärtlichkeit und aufmüpfig bleiben, sind die besten Mittel gegen das Altern.“
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