5 Minuten Wien: Der Schokoriegel
Es ist einer dieser Tage. Wien präsentiert sich von seiner kalten und düsteren Seite. Obwohl ich wild gestikulierend dem Bus nachgelaufen bin, hat der Buschauffeur mit einem hämischen Grinsen knapp vor mir die Türen verschlossen und ist losgefahren.
Einem vorbeifahrenden Auto habe ich kurz danach eine Dusche aus einer Dreckslacke zu verdanken. Als ich vollkommen ausgelaugt bei der U-Bahn ankomme, bin ich zu spät dran, hungrig und grantig. Hoffnung gibt mir der rote Snackautomat. Mit meinem letzten Kleingeld wähle ich einen Schokoriegel aus. Doch selbst das ist mir nicht vergönnt: Der Riegel verhakt sich im Metallmechanismus und ich muss hilflos mitansehen, wie er noch kurz vor sich hin schaukelt und schließlich endgültig hängen bleibt. Am liebsten möchte ich weinen. Und dann passiert es: Wien packt seinen seltenen Zauber aus. Eine Frau mit braunem Mantel und schwarzer Strickhaube hat meinen verzweifelten Blick bemerkt und stiftet plötzlich Leute an, am Automaten zu rütteln, um den Schokoriegel aus seinem Gefängnis zu befreien. Immer mehr Leute versammeln sich, klopfen mir aufmunternd auf die Schulter und können sich scheinbar gut mit der Situation identifizieren.
Aber es hilft alles nichts, der Riegel weigert sich, den Automaten zu verlassen. Die U-Bahn fährt ein. Darum bedanke ich mich für die Bemühungen und steige resigniert in den Waggon ein. Doch kurz vor der Abfahrt hechtet die Dame mit der Strickhaube hinein. In der Hand hält sie zwei Schokoriegel. „Ich habe mir auch einen gekauft, damit Ihrer endlich herunterfällt“, sagt sie. Nie schmeckte ein Schokoriegel süßer.
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