Sekten, die verschwiegene Gefahr
GM: Das Christentum feierte diese Tage mit Ostern sein wichtigstes Fest. In einigen Regionen begrüßen sich Christen mit: „Christos Anesti!“ (Christus ist auferstanden!) – „Alithos Anesti!“ (Wahrlich auferstanden!). Was bedeutet Religion für Sie persönlich und was bedeutet Religion für die heutige Gesellschaft.
FG: Ich bin überzeugter Christ, weil in Österreich geboren zufällig katholisch, und versuche, mich dementsprechend zu verhalten, wobei ich der Meinung bin, dass auch die christlichen Kirchen manchen Schutt abwerfen müssen, der sich ihnen im Lauf der Jahrhunderte angesammelt hat. Was die Gesellschaft betrifft, möchte ich auf ein geflügeltes Wort von Ernst-Wolfgang Böckenförde hinweisen:
Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“ (Staat, Gesellschaft, Freiheit. 1976, S 60.). [1]
Für mich ist eine dieser Voraussetzungen durch die Religion gegeben. Als sehr illustratives Beispiel möchte ich anführen, dass in Westdeutschland von der Gesellschaft in der Flüchtlingspolitik akzeptablere Wege beschritten wurden als im durch den Kommunismus weitgehend entchristlichten Osten Deutschlands, obwohl es gerade dort kaum Flüchtlinge gibt.
GM: Hat Religion neben diesen durchaus positiven Auswirkungen auch Schattenseiten, vor deren Gefahren gewarnt werden muss?
FG: Religion kann leider auch dazu missbraucht werden, um Menschen zu unterdrücken. Sei es, dass führende Vertreter einer ursprünglich gutartigen Religion die Gründungsdokumente fehlinterpretieren, sei es, dass jemand, der Macht ausüben will, sein selbst erfundenes System als „Religion“ deklariert, um in den Genuss der Privilegien zu gelangen, die Politik und Gesellschaft den Religionen gewährt.
GM: Wie reagieren Politik, Gerichte und Gesellschaft auf diese Umtriebe?
FG: Dies ist in verschiedenen Ländern sehr verschieden. In den USA haben Sekten auf Grund des ersten Zusatzes zur Verfassung, dass sich der Staat in Religionen nicht einmischen darf, praktisch Narrenfreiheit. Hingegen haben private Organisationen, vor allem die „American Family Foundation“ [2] , sehr bald Informationen gesammelt, Tagungen veranstaltet (seit 2005 auch in Europa) und Betroffene beraten. Leider versucht der amerikanische Staat durch teils auch kommerziellen Druck alle Staaten der Welt auf seine Linie zu bringen. In Europa ist das extreme Gegenstück dazu das laizistische Frankreich, das keine Religionen staatlich anerkennt und daher kein Problem hat, auch sich als Religionen darstellende Sekten nach normalen straf- und zivilrechtlichen Maßstäben zu beurteilen. In Österreich haben wir das Problem, dass der Staat religiöse Gruppen bei Erfüllung bestimmter Kriterien anerkennen muss, was von der Öffentlichkeit fälschlich als Unbedenklichkeitszeugnis verstanden werden kann. In den Neunzigerjahren wurde unter Bundesminister Martin Bartenstein die Bundesstelle für Sektenfragen [3] eingerichtet, die dem jeweils für Familien und Jugend zuständigen Bundesministerium [4] zugeordnet ist, die Broschüre „Sekten – Wissen schützt“ herausgegeben (Restexemplare sind noch vorhanden) und ein Gesetz zur Anerkennung von Gruppen als „religiöse Bekenntnisgemeinschaft“ als Vorstufe zur seit 1874 möglichen Anerkennung als Religionsgemeinschaft oder Kirche geschaffen. Anerkennenswert ist auch, dass das jeweils für die Jugend zuständige Bundesministerium für Familien und Jugend auch in seiner Internetseite auf das Sektenproblem Bezug nimmt. Paradox ist, dass die Bundesstelle nun über Gruppen, die staatliche Anerkennung erlangt haben, nicht mehr aufklären darf. Eine ähnliche Beschränkung gibt es für die Referate für Weltanschauungsfragen der katholischen Kirche, die über innerkirchliche problematische Gruppen nicht aufklären dürfen. Hier hat die private „Gesellschaft gegen Sekten- und Kultgefahren“ [5] mehr Spielraum.
Auch in einigen Bundesländern gibt es kompetente staatliche Beratungsstellen, so zum Beispiel Graz [6] und in Salzburg zumindest noch virtuell [7]
Eine ähnliche zentrale staatliche Stelle wie Österreich haben in Europa noch Frankreich [8] und Belgien [9] . In Ländern mit föderaler Struktur wie Deutschland und Schweiz gibt es entsprechende Einrichtungen in den Bundesländern bzw. Kantonen.
In Europa hat sich der Europarat mehrmals mit dem Problem der Sekten befasst und entsprechende Empfehlungen verabschiedet. Im Gegensatz dazu hat die Europäische Union nach einigen eher missglückten Versuchen [10] sich für diese Frage unzuständig erklärt.
In fast allen europäischen Ländern gibt es kirchliche Beratungsstellen und private Vereine. Viele dieser Vereine sind in einer europäischen Dachorganisation, der FECRIS [11], zusammengefasst. Gemeinsam mit Dr. German Müller, der jetzt die Bundesstelle für Sektenfragen leitet, war ich am 30. Juni 1994 in Paris an der Gründung dieser Organisation beteiligt, die heute über 50 Mitglied- und Korrespondentenvereine in etwa 30 Länder hat. Ich war von 2002 an Vizevorsitzender, von 2005 bis 2009 Vorsitzender und bin weiterhin Vorstandsmitglied. Jährlich werden Konferenzen abgehalten; die nächste Konferenz wird am 21. Mai 2016 in Sofia sein.
Ein weiterer internationaler virtueller Zusammenschluss ist ein Netzwerk, das etwa 160 staatliche, kirchliche und private Sektenberater in den deutsch sprechenden Ländern verbindet.
Die Gerichte tun sich mit Angelegenheiten, in die Sekten verwickelt sind, eher schwer. „Sekte“ ist kein juristischer Begriff. Psychische Beeinflussung ist schwer messbar und Gutachter auf diesem Gebiet sind rar.
Die Gesellschaft ist an diesem Problem derzeit eher uninteressiert. Im Jahre 1997 hielt ich in Pfarren, an Schulen und bei Vereinen insgesamt 50 Vorträge. Als Referent des Katholischen Bildungswerks der Diözese St. Pölten hatte ich in diesen Jahren das Waldviertel flächendeckend abgegrast. 2014 ging eine Religionslehrerin in Wien in Pension, die mich bis dahin noch regelmäßig in die Schule zu Gesprächen mit Schülern eingeladen hatte. Seitdem habe ich nur mehr bei der Plattform für Grundrechte [12] und bei internationalen Tagungen Vorträge gehalten. Feuer am Dach ist meist erst dann, wenn jemand von einer Sekte rekrutiert wird und sich der Familie entfremdet. Dann kommen die Angehörigen entsetzt zu uns und fragen, wie der Staat so etwas zulassen kann.
GM: Sind diese Reaktionen ausreichend, um Risiken, die Sekten für labile Menschen darstellen, überschaubar zu halten? Oder bedarf es des zusätzlichen Einsatzes privater Personen und Vereine? Welche Einrichtungen befassen sich mit Sekten?
FG: Ich meine, dass genügend Information vorhanden ist, aber es fehlt das Interesse, diese Information vorbeugend zu benützen. Ende des vergangenen Jahrtausends war das anders, als sich Massen(selbst)morde wie Tempel des Volkes (1978), Davidianer (1993), Sonnentempler (1994, 1996 und 1997), AUM Shinrikyo (1995), Heavens Gate (1997) und Wiedererrichtung der 10 Gebote (2000) ereigneten. Da wurde die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit wachgerüttelt.
Dagegen hält jetzt der islamistische Terror die Welt in Atem. Es ist nachgewiesen, dass die Radikalisierung von IS-Kämpfern psychologisch genau so verläuft wie die Radikalisierung von Sektenanhängern. Darüber ist bereits viel Wissen vorhanden, aber es wird nicht benützt. Man erfindet des Rad von neuen.
Dann gibt es leider eine Anzahl irriger Meinungen. [13] Vor einigen Tagen beriet ich eine Studentin, die eine Facharbeit über Sekten schrieb. Sie wollte den Unterschied zwischen Sekten und Religionen herausarbeiten und führte als Kriterium für Sekten an 1) dass sie einer Religion „gegenüberstehen“ (was bei vielen Sekten natürlich nicht der Fall ist), dass dort neue Namen vergeben werden (was bei sehr wenigen Sekten der Fall ist, aber bei fast allen katholischen Orden) und dass sie meditieren (was hauptsächlich auf östliche Sekten zutrifft, die das aber von ihren „Mutterreligionen“ geerbt haben). Den wirklichen Unterschied zwischen Religionen und Sekten zeigt dies hier. [14]
GM: Gibt es im Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen durch Sekten Hilfe von Aussteigerinnen und Aussteiger?
FG: Ja, unbedingt. Aber viele von ihnen wagen nicht den Gang in die Öffentlichkeit, aus Angst vor Rache oder gerichtlicher Verfolgung, aus Sorge, den Kontakt mit Angehörigen zu verlieren. Bei den Tagungen der FECRIS haben immer wieder Aussteigerinnen und Aussteiger ihre Leidensgeschichten erzählt und es gibt zahlreiche Bücher von solchen.
GM: An welche Stellen können sich Hilfesuchende wenden?
FG: An staatliche, kirchliche oder eben an private Stellen wie an uns. [15]
GM: Welche Hilfe können Angehörige Betroffenen bieten, um ihnen ihren Ausstieg aus einer Sekte zu erleichtern?
FG: Dazu verweise ich auf meinen Beitrag: Was können betroffene Angehörige tun? [16]
GM: Vielen Dank für das Interview
FG: Danke für Ihr Interesse.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%B6ckenf%C3%B6rde-Diktum
[2] heute: International Cultic Studies Association, http://icsahome.com
[3] http://www.bundesstelle-sektenfragen.at/
[4] Bundesministerium für Familien und Jugend – https://www.bmfj.gv.at/
[5] http://sektenberatung.at
[6] http://logo.at/
[7] http://service.salzburg.gv.at/lkorrj/Index?cmd=detail_ind&nachrid=25745
[8] http://www.derives-sectes.gouv.fr/
[9] http://ciaosn.be/
[10] http://fecris.org/wp-content/uploads/2015/05/Conradt_DE.pdf
[11] http://fecris.org
[12] http://fra.europa.eu/de/cooperation/frp
[13] http://griess.st1.at/gsk/irrige.htm
[14] http://griess.st1.at/gsk/relkult.htm
[15] http://www.bundesstelle-sektenfragen.at/beratungsstellen/ Nicht ganz up to date – die niederösterreichische Stelle gibt es nicht mehr
[16] http://griess.st1.at/gsk/betrange.htm
Wer Angehörige an eine Sekte verloren hat, weiß ob der Schwierigkeiten, an Informationen zu kommen, die Persönlichkeitsveränderung einer vertrauten Person nachzuvollziehen, und Hilfestellung bei einem etwaigen Ausstieg zu bieten.
Dieses Interview ist auch ein Nachschlagewerk für Hilfesuchende, das auf jahrzehntelange Erfahrung und Forschung beruht.
Vielen Dank Herrn DI F. Griess für seine umfangreiche Aufklärung.
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