Episoden aus meinem Leben - Knochenhöhle
Als Dreizehn- bis Vierzehnjähriger absolviere ich zwei Jahre klösterliches Privatgymnasium im Tiroler Volders. Neben Schul- und Kirchenbesuchen brauchen wir Jungspunde Abenteuer, brauche vor allem ich gewaltige Abenteuer.
Es ist mein Übermut, der mich erkunden lässt, wohin eine frei zugängliche runde Öffnung unter einem der Seitenaltäre der Karlskirche in Volders führt. Von oben betrachtet ist einfach alles finster. Daher interessiert es mich besonders, was da unten zu finden sein wird. Ich bin natürlich der erste und - wie sich später herausstellt - der einzige, der dieses Wagnis auf sich nimmt. Schlank, wie ich derzeit bin, passe ich genau in diese runde Röhre. Ich lasse mich - mit den Füßen voran - hineingleiten. Wild entschlossen - wie kann man das anders nennen - bremse ich den Gleitvorgang nicht und lasse mich hinunterfallen.
Erst zweieinhalb Meter weiter unten komme ich zum Stehen oder - besser gesagt - zum Liegen. Mir wird etwas mulmig zumute, aber ich darf das meinen Kollegen, die einfach nur begierig sind zu erfahren, was sich da unten verbirgt, nicht zeigen. Sie haben nur begriffen, dass ich ziemlich weit unten gelandet bin.
Allmählich beginne ich, etwas wahrzunehmen, einige Umrisse zu erkennen und mich zurecht zu finden. Das bisschen Licht von außen ermöglicht mir das. Trotzdem finde ich mit allem Beäugen und noch mehr Betasten des gegenüber liegenden Mauerwerks keinen Ausschlupf zur Kirchenmitte hin. Auch finde ich keine Stelle, an der eine mutmaßliche frühere Luke zugemauert worden ist. Irgendetwas wie ein Geheimgang würde mich besonders freuen. Ich bin hier gefangen!
Ich beschränke mich zunächst also darauf, nachzusehen, was am hoch mit Staub bedeckten Lehmboden zu entdecken ist. Tatsächlich finde ich einige Gegenstände. Erst nach und nach begreife ich, dass es sich um Knochen handelt. Mich packt dabei ein unbeschreibliches Gefühl zwischen Neugier, Wundern, Ehrfurcht und Erschrecken. Ich melde die Tatsache des Fundes hinauf zu meinen Kollegen und sage ihnen, dass ich diese Fundstücke, durch das Loch hinaufwerfen werde, damit sie nicht kaputt gehen. Mir kommt jetzt nämlich auch die Panik, wie ich selbst wieder hinaufkommen werde.
Mit Schrecken wird mir bewusst, dass ich die zweieinhalb Meter, die ich vorher hinuntergefallen bin, in die Gegenrichtung überwinden muss. Ich finde auch keinen Mauervorsprung, der mir Halt beim Hinaufklettern bietet. Jetzt bin ich entsetzt über meine notorische Unüberlegtheit. Wie soll ich durch dieses schmale Loch hinauf robben, wenn ich nicht einmal die Arme anwinkeln kann! Schön dumm stehe ich da, zum Genieren.
Zugute kommt mir, dass ich dieses abenteuerliche Unterfangen nicht allein, sondern zusammen mit meinen Freunden gestartet habe.Wir denken jetzt gemeinsam darüber nach, wie dieses Problem zu lösen ist. Einem kommt ein Geistesblitz, die einleuchtende Idee, ein Brett für meine Bergung zu verwenden. Es dauert zwar eine Zeitlang, bis ein passendes Exemplar gefunden ist. Meine Schulkameraden lassen diese dicke Bohle zu mir herunter. Ich lege mich drauf und klammere mich daran fest. Ich bin der Geschicklichkeit und der Kraft meiner Kumpel ausgeliefert. Zug um Zug hieven sie mich hoch.
Etwas angekratzt richte ich mich, draußen angekommen, auf und stehe etwas verdattert meinen Rettern gegenüber. Die haben sich schon über die hinaufgeworfenen Knochen Gedanken gemacht. Bei unserer gemeinsamen Begutachtung kommen wir dann überein, dass es sich um Teile von Kinderskeletten handeln muss. Weil uns bei dieser Überlegung gruselig wird, nehmen wir gerne das Argument von einem unserer Vernünftigsten an: "Tröstet Euch im Geiste der Wissenschaft, es war nur eine Katze!" Dabei belassen wir es dann auch.
Später taucht die Vermutung auf, es wären tatsächlich die Überreste von Kindern, die einer Epidemie erlegen und hier in einem Massengrab beerdigt wurden. Die letzte Pestepidemie fand hier in Tirol freilich schon zwischen 1611 und 1612 statt. Diese wurde tatsächlich vom Tiroler Maler Martin Knoller am Hochaltarbild um den heilgen Karl Borromäus zum Thema gemacht. Der Bau der Karls-Kirche jedoch war 1620 begonnen und aufgrund der Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges erst 1654 fertiggestellt worden. Also unwahrscheinlich, obwohl belegt ist, dass sich unter den Kirchenbänken einige Gruft-Kammern für Angehörige des Serviten-Ordens befinden …
Das war doch ein gewaltiges Abenteuer!
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