"Demokratiekluft": Es gibt mehr Wiener, aber weniger Wahlberechtigte

- Wählen darf, wer Staatsbürger ist. Das entspricht aber keineswegs der ansässigen Bevölkerung.
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In Rudolfsheim-Fünfhaus dürfen mittlerweile über 40 Prozent der Erwachsenen nicht wählen. "Ein demokratiepolitisches Problem, das jeder Partei bewusst sein muss", nennt das Politikwissenschaftler Gerd Valchars.
WIEN. 40.271: So viele Rudolfsheimerinnen und Rudolfsheimer dürfen am 15. Oktober an der Nationalratswahl teilnehmen. Im Bezirk leben aber doppelt so viele Menschen, nämlich etwa 79.000. Wie ergibt sich diese Diskrepanz? Mehr als 10.000 Bezirksbewohnerinnen und Bezirksbewohner sind noch zu jung zum Wählen - und von den übrigen hat ein Gutteil nicht die österreichische Staatsbürgerschaft.
Der 15. Bezirk ist jener, in dem in Wien der größte Anteil an Nicht-Wahlberechtigten lebt. 40,2 Prozent der über 16-Jährigen Rudolfsheimer haben die österreichische Staatsbürgerschaft nicht und dürfen deshalb auch nicht den Nationalrat wählen. Danach folgen Margareten mit 34,3 Prozent und die Brigittenau mit 34,3 Prozent. Einen Anteil an Nicht-Wahlberechtigten von über 30 Prozent gibt es außerdem noch in Ottakring, Favoriten, der Leopoldstadt, Hernals, am Alsergrund und in Meidling. Die anteilsmäßig meisten Wahlberechtigten gibt es übrigens in Liesing: Nur 15,3 Prozent sind dort vom Urnengang ausgeschlossen. Für ganz Wien pendelt sich die Zahl auf 27 Prozent ein.
Seit 2013: 126.000 Wiener mehr, aber 2.700 Wähler weniger
Die letzte genaue Berechnung dieser Anteile stammt vom 1. Jänner 2016, es kann sich bis zum 25. Juli 2017, dem Stichtag, an dem heuer die Zahl der Wahlberechtigten festgelegt wurde, also noch etwas verschoben haben - wenn, dann gibt es wahrscheinlich noch mehr Nicht-Wahlberechtigte. Denn: Während die Zahl der Wienerinnen und Wiener stetig steigt, ist jene der Wiener Wahlberechtigten im Vergleich zu 2013 zurückgegangen. Waren für die letzte Nationalratswahl vor vier Jahren noch 1.156.888 Wienerinnen und Wiener wahlberechtigt, sind es heuer 1.154.184 - also um 2.704 Personen weniger. In einem ähnlichen Zeitraum - vom 1. Jänner 2013 bis zum 1. Jänner 2017 - ist die Zahl der Stadtbewohner aber von 1.741.246 auf 1.867.582 angestiegen, also gibt es um 126.336 mehr.
Diese Schere zwischen Bewohnern und Wahlberechtigten geht aber sogar schon länger auseinander, sagt Politikwissenschaftler Gerd Valchars: "In den letzten 18 Jahren, also seit der Nationalratswahl 1999, hat sich der Anteil der Nicht-Wahlberechtigten in Wien von 14 auf beinahe 28 Prozent verdoppelt." Er nennt das ein "demokratiepolitisches Problem, das eigentlich jeder Partei bewusst sein muss." Eine Million Menschen in Österreich sind über 16 Jahre, aber nicht wahlberechtigt - sie erleben also die Folgen politischer Entscheidungen, können sie aber nicht mitbestimmen. Und das oft über viele Jahre: "40 Prozent der Menschen ohne österreichischen Passt lebt seit über zehn Jahren hier. Diese Menschen haben ihren Lebensmittelpunkt hierher verlegt."
Eine Aktion gegen diesen „Demokratieausschluss“, wie sie es nennt, veranstaltet die Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch. Bei der Pass-Egal-Wahl können Nichtösterreicher, die älter sind als 16, ihre Stimme symbolisch abgeben. Sie findet in sechs Landeshauptstädten am 10. Oktober statt. In Wien wird die Wahlurne von 15 bis 20 Uhr am Heldenplatz aufgebaut. Das Ergebnis der symbolischen Wahl wird dann bekanntgegeben.
„Menschen aus der Demokratie draußen zu halten, schafft Parallelgesellschaften", sagt Alexander Pollak von SOS Mitmensch, „und umgekehrt: durch Beteiligung schafft man Zugehörigkeit.“ Bei vergangenen Pass-Egal-Wahlen habe er Menschen erlebt, die überhaupt das erste Mal in ihrem Leben ihre Stimme abgegeben haben. Denn: 200.000 der Nicht-Wahlberechtigten sind in Österreich geboren. Viele von ihnen dürfen in dem Land, dessen Pass sie besitzen, auch nicht wählen. „Sie haben sich gefühlt, als wären sie jetzt wirklich in Österreich angekommen“, sagt Pollak. Mehr Infos zur Pass-Egal-Wahl gibt es hier.
Betroffen sind aber nicht nur die von der Wahl ausgeschlossenen, erklärt Gerd Valchars, sondern auch - zum Beispiel - die Städter, vor allem die Wiener, und die Jungen. "Die Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft leben eher in Städten und sind jünger als die Staatsbürger." Die jungen Städter sind also in der Wählerschaft unterrepräsentiert: "Ein Problem auch für mich als knapp 40-Jährigen Favoritner, obwohl ich ja wählen darf." Gut nachvollziehen könne man das laut Valchars am Beispiel von Wien und Niederösterreich: 21,3 Prozent der Österreicher sind aus Wien, 20,1 Prozent aus Niederösterreich. Die Niederösterreicher machen aber 19 Prozent der österreichischen Wähler aus, die Wiener nur 18 Prozent. Ein Interesse daran, den Status Quo zu ändern, sollten also auch die größeren Städte sowie die jüngeren Wählerinnen und Wähler haben, so Valchars.
1 Million Stimmen, um die niemand kämpft
Eine dritte Ebene, auf der der Ausschluss der Nichtösterreicherinnen und -österreicher ein Problem ist, ist jenes der Themensetzung: "Keine Partei kämpft wirklich für die Interessen der Million Nicht-Wahlberechtigter", sagt Valchars. Und umgekehrt: Man könne Wahlkampf auf dem Rücken dieser Menschen austragen, ohne von ihnen bestraft zu werden - sie könnten ja auch keine Partei nicht wählen. "Das Thema Migration ist in diesem Wahlkampf etwa sehr präsent, aber kaum aus der Perspektive der Betroffenen", so Valchars.
Sowohl Valchars als auch Pollak sehen zwei Möglichkeiten für mehr Teilhabe: Erleichterter Zugang zur Staatsbürgerschaft - "das österreichische Gesetz ist hier im internationalen Vergleich eines der restriktivsten", sagt Valchars - oder eine Entkoppelung von Wahlrecht und Staatsbürgerschaft. So oder so: "Wer in Österreich lebt, soll in Österreich mitbestimmen dürfen - alle Menschen, die ihren Hauptwohnsitz in Österreich haben, sollen nach spätestens drei Jahren das aktive und passive Wahlrecht erhalten", ist die Position von SOS Mitmensch.
Einige Parteien sprechen sich übrigens dafür aus, dass auch Nicht-Österreicherinnen und -Österreicher auf Bundesebene wählen dürfen. Die Grünen und die KPÖ wünschen sich ein Wahlrecht für alle, Neos und die Liste Pilz eines für EU-Bürgerinnen und -Bürger. Die anderen Parteien - SPÖ, ÖVP und FPÖ- sind für eine Beibehaltung der derzeitigen Regelung. Die Positionen im Überblick kann man gut auf Wahlkabine.at (Frage 10) nachlesen.


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