Kultur kurios: Selbstvervolkung?
Wie viele der Leute, die gerne lauthals den Untergang des Abendlandes befürchten, würden bei genauerem Hinsehen erkennen lassen, daß dieses Abendland vor allem in ihnen selbst längst untergegangen oder noch gar nie aufgegangen ist?
Ich bin ja ganz gerührt, wenn ich nun seit Jahren höre, daß sich so viele Menschen Sorgen um unsere Kultur und um ihre Identität machen. Als Kulturschaffender müßte ich davon geradezu begeistert sein. Aber leider hält dieses Sorgen-Gewitter keiner Überprüfung stand.
Was finde ich denn unter jenen Menschen, die vor Plakaten, auf denen „Fremd im eigenen Land?“ steht, mit den Köpfen nicken bis ihnen der Hals weh tut? Ich weiß längst, was ihnen diese Sorgen beschert. Es ist ihr eigener Mangel an Vertrautheit mit abendländischer Kultur, der sie unsicher macht. Es ist ihre eigene Unklarheit, was es denn bedeuten könnte, eine Österreicherin, ein Österreicher zu sein.
Sie sind sich fremd, das macht sie ratlos und anfällig für solche Ängste. Das bürden sie lieber anderen auf, jenen, die ihnen fremd sind, als an sich etwas zu ändern. Was denn ändern? Das ist leicht zu erklären.
Haben sie denn einen Tau von „unserer Kultur“? Kennen sie auch nur irgend etwas von unserer traditionellen Volkskultur? Da meine ich nun nicht die Volksmusik-Showgrößen, wie man sie uns aus der Unterhaltungsindustrie aufdrängt, sondern zum Beispiel von Hand gemachte Musik aus dem alpenländischen Raum.
Wissen sie, was sonst noch in diesen Bereichen kultureller Leidenschaften der Menschen vorkommt, wenn die Alltagsarbeit ruht und Leute ganz ihren eigenen Interessen nachgehen? Kennen sie eventuell auch die Schätze einer Volkskultur in der technischen Welt?
Nichts weist darauf hin, daß große Kreise unserer Landsleute mit derlei Ausdrucksformen abendländischer Kultur vertraut sind. Auch in der jungen Populärkultur, verrät mir kein Mainstream-Radio, daß die „Wir sind das Volk-Massen“ in der Popkultur mehrheitlich Gefallen an interessanten Stoffen hätten. Immerhin haben sich seit wenigstens 100 Jahren Blues und Jazz entfalteten, kam der Rock & Roll nach. (Sie glauben doch nicht ernsthaft, ein Industrieprodukt wie Andreas Gabalier hätte damit etwas zu tun?)
Vom Volkstümlichen bis zum Pop-Geschrumpel ist so vielen Menschen der billigste Schund aus Massenproduktion gerade recht. Mit solchen Klängen und Textchen bis über die Ohren vollgestopft hätte ich auch ein ernstes Identitätsproblem. Da kann einen selbst der sanfte Semino Rossi nicht retten, während Helene Fischer den Burschen wenigstens ein paar feuchte Träume beschert und die Mädchen in die nächste Hunger-Attacke treibt. Na, auch eine Art Kultur.
Was aber nun die Kultur des Abendlandes angeht, erwarte ich ja gar nicht, daß jemand wenigstens kurz in Texte von Platon oder Sophokles geschnuppert hat. Dürften es dann wenigstens einmal in einem Leben Dostojewski und Zola gewesen sein?
Oder erwarte ich schon zu viel, wenn ich sage, ein guter Abendländer sollte mindestens zwei interessante Bücher im Jahr schaffen? Wir wissen, die meisten schaffen das nicht, weil sie ja keine Zeit dafür finden, obwohl sie jeden Tag nach der Hackn vor der Glotze hängen. Auch diverse Cafès und sonstige Hütten kostebn eben Zeit, da muß das nächste gute Buch einfach warten. Ich verstehe das.
Nun haben einem drei bis fünf Jahrzehnte ORF-Frensehprogramm im Vorabendbereich sicher schon die Fundamente der Selbstsicherheit und des abendländischen Kulturverständnisses geschwächt, seit aber Schüsseln und Kabel das Ganze mal 200 bieten, sind die menschlichen Perlen des Abendlandes in ihrer abendländischen Identität nicht gerade gefestigt worden.
Apropos Identität! Woher beziehen meine Landsleute die überhaupt? Na, gewiß nicht aus dem eifrigen Lesen bedeutender österreichischer Literatur aus den letzten zweihundert Jahren, auch nicht aus dem konsequenten Besuch von Theatern und Konzertsälen.
Macht nichts! Auch ich habe wenig Neigung zur bürgerlichen Repräsentationskultur und bin ganz energisch für ein Recht auf billige Unterhaltung. Sie können mich zum Beispiel jederzeit über hervorragende Vorabend-Serien und Soap Operas prüfend befragen. Da bin ich ziemlich fit. Auch Actionfilme aller Qualitätsstufen kann ich Ihnen rezensieren.
Aber wir könnten dann eben genauso über Elias Canetti und über Bücher seiner Frau Veza reden, über George Saiko oder Stefan Zweig. Es muß ja nicht gleich Ivo Andric sein oder Dubravka Ugresic.
Bildwelten. Kinofilme. Ach, das europäische Kino des 20. Jahrhunderts! Gedichte! Kennst Du welche jenseits der miserablen Reimereien in den Leserbriefspalten der „Krone“? Kennst Du Gstanzeln und Spottverse, wie sie einfache Knechte und Arbeiterinnen mündlich überliefert haben?
Und so geht es fort. Sie fühlen sich in der eigenen Heimat fremd, weil sie die Fremden sind unserer Kultur, wütend und herablassend, weil sie kaum andere Stoffe kennen als jene Wohltaten, die ihnen hochdotierte Werbeagenturen und milliardenschwere Unterhaltungsindustrien andienen.
Sie schaffen ihre Sebstdefintion vor allem durch Feindmarkierung. Darum müssen sie die Fremden hassen. Erst in diesem Haß spüren sich manche von ihnen endlich selbst. Erst wenn sie in das fremde Gesicht blicken, ahnen sie, daß sie selbst eines haben können, wie es ausnahmswerise nicht von Boulevardblättern vorgezeichnet wurde.
Sie sind schon lange „Fremd im eigenen Land“ und fremd in sich selbst, was sie einander nicht erzählen können, weil sie dazu die laute Musik abschalten und das Glas Wodka-Red Bull wegstellen müßten, wahlweise den Humpen Bier oder den Aperol-Spritzer oder was weiß ich.
Dann müßten sie von sich selbst sprechen und davon, was es denn sei, dieses IHR Abendland, diese IHRE Heimat, dieses IHR Land, diese IHRE Identität; wie das alles aussieht und klingt und schmeckt, soweit von ihnen dazu etwas ausging, etwas beigetragen wurde.
Was sehe und was höre ich dann? Bloß ihren Haß auf die Fremden. Bedauerlich, aber auch gefährlich, wenn jemand in sich selbst untergegangen ist, sich selbst entfremdet, vollgestopft mit billiger Massenware an Worten und Klängen.
Was da helfen könnte? Na, wenigstens einmal kurz die laute Musik abschalten und das Glas Wodka-Red Bull wegstellen, um ein paar Takte darüber zu sprechen, wer man zu sein glaubt. Das wäre ein interessanter Anfang.
+) Die Serie "Kultur kurios" [link]
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