19. Juli 2016: Der Putsch, ein Geschenk des Himmels für die heimische Politik
„Du willst Erdogan? Dann pack deine Koffer und verschwinde dorthin, wo er regiert. Nämlich in die Türkei. Und bleib dort.“ Dieser Kommentar wurde mehrfach in den sozialen Netzwerken geteilt, nachdem am Wochenende Tausende in Wien gegen den Militärputsch in der Türkei demonstriert hatten.
Kann man Menschen wirklich dafür kritisieren, dass sie sich für das politische Geschehen in ihrer Heimat interessieren und dafür auf die Straße gehen? Die Politik kann jedenfalls. Und das quer durch die Bank. Für Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) gehört das Vermischen von politischen und religiösen Motiven nicht zur politischen Kultur in Österreich. Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) fordert „mehr Loyalität und Respekt gegenüber Österreich als Gastland“. Weitere Wortmeldungen: „Ich will keine türkischen Verhältnisse in Österreich haben“ (Grüne), „Österreich ist nicht der Ort, um türkische Politik auf den Straßen auszutragen (FPÖ)“, „Die Demo ist gelinde gesagt frech“ (Neos).
Das ist gelinde gesagt Heuchelei und Populismus.
Warum? Vor zwei Wochen- nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs über die Bundespräsidentenwahl - wurden noch Jubelmeldung rausgejagt, dass wir uns in einem funktionierenden Rechtsstaat befinden. Das Gesetzt sagt – vereinfacht dargestellt - , dass Wahlen wiederholt werden sollen, wenn Manipulationen möglich waren. Darum wählt jetzt ganz Österreich neu. Gewinner sei die unabhängige Justiz. Das Vertrauen in den Rechtsstaat wurde quasi zum geflügelten Wort.
Geltendes Recht ist aber auch das Demonstrationsrecht in Österreich. Auch wenn man mit den Gründen der Demo nicht einverstanden ist. Das außer Acht zu lassen und Stimmung gegen die türkischen Bewohner Österreichs zu machen, macht die Gräben nur tiefer und verstärkt Vorurteile. Noch dazu wenige Wochen, nachdem man für die genauso fragwürdigen Identitären mit Pfefferspray den Weg auf den Straßen Wiens freigeräumt hat. Und auf Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht gepocht hat. Diese Kombination ist mehr als ungeschickt. Denn was heißt das? Nur unser Faschismus darf auf unsere Straßen?
Für Erdogan war der Putsch nach eigener Aussage ein „Geschenk des Himmels“. Man hat fast das Gefühl, dass es das für die österreichische Politik auch war. Denn man kann den Wählern jetzt geben, was sie wollen. Man kann jetzt als Macher auftreten, als Bewahrer der österreichischen Kultur. Man kann ins selbe Horn blasen wie die FPÖ ohne dabei gleich ins rechte Eck gestellt zu werden. In Wahrheit ist es trotzdem nur ein lautes Schreien gegen die türkische Community. Ohne tatsächliche Lösungen zu präsentieren.
Das heißt natürlich nicht, dass man Erdogan gut finden muss. Im Gegenteil. Man darf mit Unbehagen Richtung der zunehmend diktatorischen Ausrichtung der Türkei blicken. Alles andere wäre blauäugig. Man muss entschieden gegen die im Raum stehenden Todesstrafen auftreten, man darf nicht zusehen, wenn Gegner Erdogans systematisch verfolgt werden. Man muss sich auf politischer Ebene überlegen, wie man jetzt weiter tut.
Man muss auch darüber reden, ob eine Vermischung von religiösen und politischen Themen beängstigend ist und ob das Demonstrationsrecht bei uns adaptiert gehört. Ob man den (bei der türkischen Demo verwendeten) Wolfsgruß und andere faschistische Symbole unter das Verbotsgesetz stellen sollte.
Dabei sollte man aber nicht nur über türkische Demos, sondern auch über besagte Identitäre oder auch linksextreme Kundgebungen sprechen. Das alles muss man diskutieren. Allerdings in einer sachlichen Debatte und ohne Populismus. Und nicht auf dem Rücken einer Migranten-Community.
Denn wir leben tatsächlich in einem funktionierenden Rechtsstaat.
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