Akzeptanz für Flüchtlinge, aber nicht für Massenunterkünfte

ST. GERTRAUDI (2015-03-24) – Im kleinen 250-Seelen-Dorf St. Gertraudi (Gemeinde Reith im Alpbachtal) brodelt die Volksseele. Eine Bürgerinitiative hat sich gegen die Erweiterung des Flüchtlingsheims Landhaus mit einem Containerdorf für 49 weitere Asylwerber gebildet und will im schlimmsten Fall mit Sitz- und Hungerstreiks ein Zeichen setzen. Man hat über die Medien von der Erweiterung erfahren und fühlt sich seit der Heimerrichtung belogen, absichtlich desinformiert und ausgegrenzt.

„Es ist unsere humanitäre Pflicht, Flüchtlinge, die ihre Heimat und ihr Hab und Gut zurücklassen mussten menschenwürdig aufzunehmen. Wir brauchen deshalb keinen Dialog über die Akzeptanz von Menschen in Not führen. Über die Akzeptanz der Einrichtungsgröße für 120 Flüchtlinge in einem Dorf wie St. Gertraudi mit 250 Einwohnern werden wir aber sehr wohl sprechen müssen.“ so Martin Reiter im Namen der Bürgerinitiative St. Gertraudi. Reiter und seine Mitstreiter sprechen aus Erfahrung, denn zu oft sei man vom Land in Sachen Flüchtlingsheim schon belogen worden. „Das Heim wird in maximal zehn Jahren abgewohnt sein und somit aufgelassen“, hieß es bei Errichtung. Das sind 14 Jahre her. „Es wird eine 24 Stunden Rundumbetreuung vor Ort geben.“ wurde versprochen. Tatsächlich ist die Betreuung auf 8 Stunden pro Tag während der Werktage beschränkt. Auch die maximale Anzahl von Flüchtlingen sollte 50 Personen betragen, heute sind es durchschnittlich 60, zu Spitzenzeiten noch mehr. Sogenannte "Brandschutzbéauftragte" wissen nur, dass sie eine gelbe Jacke anziehen müssen, sonst nichts. Und jetzt erfuhr die Bevölkerung über die Medien von der Erweiterung in Form eines Containerdorfes für weitere 49 Flüchtlinge.
Ersnt Wurm: „Spricht man diese Tatsachen an, wird man als ausländerfeindlich abgestempelt. Dabei geht es hier, wie bereits erwähnt, weder um die Flüchtlinge selbst, noch um das bestehende Flüchtlingsheim, sondern ausschließlich um gebrochene Versprechen, fehlende Informationspolitik für die Bevölkerung und eine nicht funktionierende Integration durch zu hohe Personenzahlen an einzelnen Orten.“
Nicht umsonst löse die Unterbringung von Asylbewerbern in Massenquartieren in vielen Tiroler Gemeinden regelmäßig starke Konflikte aus. Die BI St. Gertraudi fordert auch Solidarität von anderen Gemeinden ein. Eine bessere Verteilung würde auch die Integration fördern bzw. erst ermöglichen. "Wir stehen zum jetzigen Flüchtlingsheim, lassen uns aber nicht das Florianiprinzip unterstellen, nur weil wir jetzt gegen eine Erweiterung sind." ergänzt Kurt Scheidnagl.

Massenunterbringung ist menschenunwürdig

Seitens der Bürgerinitiative sei man der Meinung, dass eine zwangsweise Unterbringung von Asylbewerbern in Gemeinschaftsunterkünften weder zeitgemäß noch menschenwürdig ist.
Reiter: „Durch die Massenunterbringungen entstehen gerade in kleineren Dörfern und Gemeinden Probleme, die bei dezentraler Unterbringung in Wohnungen bzw. zumindest kleineren Einheiten nicht entstehen würden.“
Die sogenannten Gemeinschaftsunterkünfte würden aufgrund ihrer sozialen Brisanz hinter dem Rücken der Bevölkerung verhandelt und die betroffenen Bürger schließlich vor vollendete Tatsachen gestellt. Reiter: „Diese Vorgehensweise ruft zwangsläufig vermeidbaren Ärger und nachvollziehbaren Widerstand hervor, denn durch die starke Konzentration von Flüchtlingen an einem Ort werden Einwohner und Sozialsysteme massiv überfordert.“
Außerdem entstehen, so Ernst Wurm, mit diesen ausgewiesenen Gemeinschaftsunterkünften künstliche Fremdkörper in gewachsenen Siedlungsstrukturen, die ein gemeinsames Miteinander zusätzlich erschweren.
Anschließend stehen die Gemeinden, die betroffenen Bürger und die örtlichen Vereine dann vor der schwierigen Aufgabe, die Berührungsängste in der Bevölkerung abzubauen und die Asylsuchenden in die Gemeinschaft zu integrieren. Wurm: „Bei einer dezentralen Unterbringung von Asylbewerbern in Wohnungen ergeben sich auf natürlichem Weg zwischenmenschliche Kontakte und alltägliche Begegnungen, die ein gelingendes Miteinander erheblich erleichtern würden.“

Keine faire Verteilung trotz großer Ankündigungen

„Flüchtlinge werden fair verteilt", lautete am 18. November 2014 die Pressemeldung zur Einigung der Landeshauptleute in Klagenfurt. Gemeint waren damit die Bundesländer. Diese „faire Verteilung“ müsse aber auch auf den niedrigeren Ebenen, sprich Bezirke und Gemeinden, gelten.
Etwa 2414 Personen müssen in Tirol untergebracht werden. In St. Gertraudi werden es zukünftig bis zu 120 sein. Die Gemeinde Reith hätte somit die 13fache Quote, das in sich abgeschlossene Dorf St. Gertraudi mehr als ein Drittel der Quote des gesamten Bezirkes Kufstein und somit die 120fache (!) Quote.
Kurt Scheidnagl: „Mit dem bestehenden Flüchtlingsheim könne man leben, eine Erweiterung wird aber strikt abgelehnt und man werde sich dagegen mit Händen und Füßen wehren.“

EU fehlt ein Verteilermechanismus

In diesem Zusammenhang verweist Martin Reiter auch darauf, dass in der EU ein Mechanismus fehle, der zu einer gerechteren Verteilung von Asylbewerbern auf die Mitgliedstaaten führt. Länder wie Schweden und Belgien nehmen gemessen an ihrer Einwohnerzahl deutlich mehr Asylbewerber auf als andere große EU-Mitgliedstaaten wie z.B. Deutschland, Großbritannien und Polen. In Griechenland, Malta und Zypern sind die Asylsysteme zum Teil derart überlastet, dass die Aufnahme- und Verfahrensbedingungen nicht den Mindestnormen des EU-Rechts entsprechen. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS), das bis spätestens Mitte 2015 EU-weit umgesetzt sein muss, sieht zwar einheitliche und etwas höhere Standards für die Aufnahme von Flüchtlingen vor, bietet aber keine Lösung für eine gerechtere Lastenteilung zwischen den Mitgliedstaaten.
Wendet man das Mehrfaktorenmodell auf die zwischen 2008 und 2012 in der EU gestellten rund 1,3 Millionen Asylanträge an, haben nur acht Mitgliedstaaten überproportional Flüchtlinge aufgenommen: Schweden, Belgien, Griechenland, Österreich, Zypern, Malta, Frankreich und die Niederlande. Deutschland hat im Durchschnitt der letzten fünf Jahre in etwa so viele Asylbewerber aufgenommen, wie laut Modell angemessen. Überraschend ist, dass auch viele Länder an den EU-Außengrenzen weniger Flüchtlinge aufgenommen haben, als es ihrem fairen Anteil entsprochen hätte, darunter Italien.

Wo: Reith, St. Gertraudi 64, 6235 Reith im Alpbachtal auf Karte anzeigen
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