Eine Geschichte, die das Innerste des Waldviertlers nach außen kehrt
Die Schatten zwischen den Bäumen geben sicher nicht alles preis, was sich in ihnen verbirgt, auch wenn unsere heutige, von rationalem Denken geprägte Wahrnehmung die herbstlichen Wälder wohl nicht mehr als bedrohliche Heimstatt von Kobolden, Hexen oder Ungeheuern sieht.
Früher war diese Ansicht aber eine breit akzeptierte. Die Natur wurde als belebt gesehen – und zwar in all ihren Facetten: denjenigen, die sich die Menschen erklären konnten, aber auch denjenigen, die für die Bewohner dieses Hochlandes nicht so einfach zu durchschauen waren. Segen und Verderben lagen für die Menschen, die direkt in und von der Natur lebten, eng beieinander und es war deutlich einfacher, mit konkreten Wesenheiten als mit einem abstrakten Schicksal zu hadern, wenn widrige Wetterumstände, Seuchen oder ähnliche Katastrophen den Bauern das Leben schwer machten.
So existieren besonders im nördlichen Waldviertel verschiedene Sagenvarianten zum Thema "Wilde Jagd". Stets geht es darin um Erscheinungen am (Nacht-)Himmel, die als Jagdgesellschaft übernatürlicher Wesen interpretiert werden. Diese können zu bestimmten Zeiten - etwa den Raunächten - besonders häufig beobachtet werden und es ist wichtig, sich beim Herannahen jener buchstäblich „Wilden Jagd“ möglichst unauffällig zu verhalten, da es sonst passieren kann, dass man in diesem schauerlichen Zug mitgerissen wird.
Ein Beispiel für die Popularität jener Geschichte ist zum Beispiel der Flurname "Wilde Jagd" nördlich von Hörmanns bei Litschau.
Der "Wilde Jäger", der die unirdische Gesellschaft anführt, wird in den meisten Sagenfassungen ganz offen als "Wotan" bezeichnet, worin deutlich wird, aus welcher Besiedlungsperiode des Waldviertels dieser Mythos stammt: aus der germanischen. Stämme jenes Volkes dominierten das Viertel ober dem Manhartsberg zeitlich gesehen zwischen den Kelten und den Slawen und scheinen zumindest in der Sagenliteratur doch einige Spuren ihrer Glaubenswelt hinterlassen zu haben. Mehrere Sagengestalten des nördlichen Waldviertels sind an ihren Attributen und ihren Handlungen tatsächlich unschwer als germanische Gottheiten zu erkennen.
Die naheliegendste Deutung sieht die Wilde Jagd als Bildhaftmachung von Ängsten, die mit der dunklen Jahreszeit, den Überlebenssorgen in den Wintermonaten und den zu dieser Zeit anberaumten Totengedenkfesten zusammenhängt.
Interessant ist, dass die Wilde Jagd zwar ein typisches Sagenmotiv für das nördliche Waldviertel darstellt, aber in mehr oder minder abgewandelter Form fast überall auf der Welt (und nicht nur in indogermanischen Kulturen) anzutreffen ist. Offensichtlich scheint es sich bei ihr um einen Archetypus zu handeln, der in Erzählungen, Gedichten, Liedern und Bildern weltweit Ausdruck gefunden hat. Selbst im - dem Waldviertel ja nicht gerade unmittelbar benachbarten - Nordamerika sind sowohl von den Ureinwohnern als auch von den weißen Siedlern ähnliche Sagenmotive bekannt, wobei letztere wohl einfach ihre tradierten Mythen mitgebracht und in der neuen Heimat maximal den veränderten Lebensumständen angepasst haben dürften.
Dass die Sagenwelt des (nördlichen) Waldviertels sich aber letzten Endes nicht als Vehikel zur Erhöhung der Nächtigungszahlen oder als Publikumsmagnet für Tagesausflügler aus der Bundeshauptstadt eignet, macht das Schicksal der Heidenreichsteiner „Anderswelt“ deutlich, deren kurze Existenz als multimediale Erlebnisausstellung zur Mythenwelt der Region kein großes Glück beschieden war: Bereits zwei Jahre nach der Eröffnung war sie schon wieder geschlossen, verstorben an akutem Umsatzmangel.
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