Theaterkeller: Denkwürdiger Abend
Neue Übersetzung von Scholem Alejchem
Eine literarische Rarität erlebten zahlreiche fachkundige Gäste im Wiener Theaterkeller bei der Präsentation von Weltliteratur, die 1916 in ihrer jiddischen Fassung unvollständig beendet und 1994 ins österreichische Deutsch übersetzt worden ist und nun im Jahre 2023 seine Veröffentlichung durch den österreichischen Pilum Literatur Verlag erfuhr.
„Beide, der Autor Scholem Alejchem, wie auch sein Übersetzer Boris Brainin, haben auf unterschiedliche Weise ein Leben lang unter Pogromen und Revolutionen, an Vertreibung und Flucht gelitten, und beide sind im damaligen russischen Kaiserreich, in der heutigen Ukraine geboren“, erwähnte der Mitherausgeber Erwin Matl, der auch durch den Abend führte.
Zahlreiche Mitglieder der Familie Brainin waren anwesend, darunter Sohn Valeri Brainin, dessen Tochter Tochter Agata Andreeva und deren Sohn Miron Vatlin, einem großartigen Klaviervirtuosen, der mit vier passenden Werken den Abend musikalisch umrahmte.
Der Schriftsteller Scholem Rabinowitsch, der sich nach Veröffentlichungen um 1880 nur noch Scholem Alejchem, „Friede sei mit dir“, nannte, plante mehr als ein Jahrzehnt eine verklausulierte Geschichte seiner eigenen Kindheit samt seiner Reise nach Amerika.
„Motl, der Waisenknabe“ schildert aus der Perspektive eines Kindes das Leben im „Shtetl“, das wir ja auch aus dem später zum Musical gewordenen Stück „Anatevka“ gut kennen und thematisiert die Entwurzelung meist russischer Juden, die nach Amerika auswandern mussten. Das kleine ukrainisch-russische „Fantasie“-Dorf heißt hier Kasrilowka (als Anspielung auf Alejchems Heimatdorf nahe von Kiew) und in diesem beginnt die Geschichte eines noch nicht neunjährigen Knaben, eines Sohns ärmster Eltern, dessen Vater in den ersten Kapiteln stirbt. So plant die Familie recht bald nach dem Tod des Vaters mit der Mutter, dem Bruder und dessen Frau, einem Freund und dessen Frau nach Amerika ins Gelobte Land auszuwandern. Im Gegensatz zu den Leiden der Erwachsenen sieht der kleine Motl das Leben von der heiteren Seite, allein weil sein Status „Waisenkind“ alle Hindernisse hinwegfegt.
Mit dem Aufbruch vom heimatlichen „Shtetl“ über Brody, Lemberg, Krakau, Wien, Antwerpen nach London, einschließlich illegaler Grenzübertritte, medizinischer Angst und verwirrendem Papierkram, endet schließlich der sehr lebendig erzählte erste Teil des Buches, der von Scholem Alejchem während seiner kurzzeitigen Rückkehr nach Europa ab 1906 verfasst und danach in der New Yorker jiddischen Zeitung kapitelweise als Serie veröffentlicht wurde.
Erst 1915 hat der Autor mit dem zweiten, den amerikanischen Teil des Motl begonnen, nachdem er selbst nach New York zurückgekehrt war. In diesem 2. Teil dramatisiert der Autor einerseits die Schwierigkeiten des Einwandererlebens und erfreut sich andererseits durch Motls optimistische Kinderaugen an den neuen Möglichkeiten. Zu diesem Zeitpunkt ließ Scholem Alejchems Gesundheit nach, und es fehlt den letzten Kapiteln die Energie und Tiefe, die den Beginn des Romans charakterisieren, weil sie vermutlich in der Ahnung des frühen Todes verfasst worden sind. Als er schließlich am 13. Mai 1916 57jährig verstarb, lag das teilweise geschriebene Manuskript des letzten Buchkapitels offen auf seinem Schreibtisch. Viele Seiten sind leer geblieben.
Über den in Österreich aufgewachsenen Literaten, Nachdichter und Übersetzer Boris Brainin, der nach seinem Studium kurz nach der Promotion Österreich aus politischen Gründen verlassen musste und später in den russischen Gulag geraten ist, berichtete der Historiker und Direktor der VHS Hietzing Dr. Robert Streibel, der Boris Brainin einige Male persönlich begegnet ist. Streibel zog dabei auch Parallelen zur Gegenwart, die zeige, wie schnell man auch heute wieder – wie zu Brainins Zeiten – weggesperrt und „vernichtet" werden könne.
Margarita Murzina hat die Buchgrafik zum neuen Buch gestaltet und sie ist die Enkeltochter von Frau Soja Sparo (geborene Fillipówa). Diese hatte in der uralischen Stadt Nischni Tagil Boris Brainin als Deutschlehrer. Dank ihm erlernte sie die Sprache so gut, dass sie die Aufnahmsprüfung an der pädagogischen Hochschule mit sehr guten Ergebnissen schaffte. Oft erzählte sie auch in ihrer Familie von Boris Brainin, der wesentlichen Einfluss auf ihre Berufswahl und somit auch auf ihr Leben genommen hatte. Durch Frau Olga Murzina, der Tochter von Frau Sparo, die auch Deutschlehrerin in Nischni Tagil geworden ist, und die bei mehreren österreichischen Schul- und später auch Autorenprojekten mitgemacht hat, kam Erwin Matl schließlich mit Valeri Brainin in Kontakt.
Voll Dankbarkeit sprach Valeri Brainin darüber, dass nun, fast drei Jahrzehnte nach der Übersetzung, endlich ein Verlag gefunden worden ist, der das für seinen Vater so wichtige Übersetzungswerk „Motl, der Waisenknabe“ veröffentlich hat. „Die Übersetzung des Romans von Scholem Alejchem ist die einzige mir bekannte Prosaübersetzung von ihm. Ich erhielt dieses Manuskript zusammen mit dem Manuskript seiner Memoiren etwa zwei Jahre vor seinem Tod. Er sagte mir damals, dass die Übersetzung aus dem Jiddischen seine Pflicht gegenüber seinen Eltern sei, für die Jiddisch Muttersprache war. Ich weiß, dass mein Vater trotz seiner Krankheiten und seines Alters, er war damals 90 Jahre, jeden Tag an Übersetzungen gearbeitet hat. Er war halb gelähmt, konnte aber mit einer Hand auf der Schreibmaschine tippen.“
Dass die Veröffentlichung dieses Buches keine ganz einfache Angelegenheit war, darüber können die Herausgeber Leopold Hnidek, Leiter des Pilum Literatur Verlags in Strasshof/Nordbahn und Erwin Matl berichten. Nach der erfolgreichen Buchherausgabe der Memoiren von Boris Brainin, „Wridols Erinnerungen“, 2019 im Pilum Literatur Verlag hat Valeri Brainin im Jahre 2021 diese Übersetzung in Form von 218 fotografierten, teilweise undeutlich leserlichen Maschinschreibseiten angeboten.
Nach Klärung der Urheberrechte (schließlich gab es auch eine Übersetzung von Grete Fischer, 1965 im Insel-Verlag) erfolgte ein mehrfaches, äußerst mühsames Lektorieren. Da die eher schnell eingetippte Übersetzung jahrzehntelang nichtkorrigiert liegen blieb, kamen bei der aktuellen Bearbeitung neben begrifflichen Verwechslungen und unwesentlichen Kleinigkeiten auch gravierende Fehler wie falsche Kapitelnummerierungen und das Auslassen eines Kapitels zum Vorschein. Die Erzählsprache von Scholem Alejchem am Beginn des 20. Jahrhunderts wiederum führte auch in der Übersetzung zu manch deftigen Ausdrücken, die man in dieser Weise in der Jetztzeit nicht mehr tätigen dürfte. Die Herausgeber entschieden sich daher für eine Fußnote bei einer besonders heiklen Aussage, die beim ersten Aufeinandertreffen mit der „schwarzen Rasse“ im Text steht. Auch blieben manche jiddischen Termini für den Leser unverständlich, sodass man eine Liste aller Eigenbegriffe anfügte.
Trotz aller Herausforderungen waren die beiden Herausgeber bemüht, äußerst sparsam mit ihren Korrekturen umzugehen, handelt es sich doch hier um zweifache Weltliteratur. An die 150.000 Menschen waren beim Begräbnis von Scholem Alejchem in New York, alle jüdischen Geschäfte waren an diesem Tag geschlossen, so beliebt ist er am Ende seines Lebens gewesen. Und Boris Brainins Gesamtwerk erfuhr in der Vergangenheit viel zu wenig Beachtung. Es ist Valeri Brainin zu verdanken, dass er diese wichtige Übersetzung seines Vaters bewahrt und dem Pilum Literatur Verlag für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.
Die Dramaturgin des Wiener Theaterkellers und Autorin Gertrud Hauck begrüßte die Gäste im Namen der gesundheitlich verhinderten Intendantin Dr. Helene Levar und rezitierte im Laufe des gelungenen Abends ausgewählte Stellen aus dem Roman.
Erhältlich ist das neue Buch „Motl, der Waisenknabe“ im Buchhandel sowie direkt im Shop des Pilum Literatur Verlags.
https://www.pilumliteratur.at/shop/belletristik/#cc-m-product-13192418599
Du möchtest selbst beitragen?
Melde dich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.
Kommentare
Du möchtest kommentieren?
Du möchtest zur Diskussion beitragen? Melde Dich an, um Kommentare zu verfassen.