Freispruch trotz mehrfachem Mord
In den Kammerspielen wird das Publikum auf eine harte Probe gestellt. Ist es gestattet, eine Verkehrsmaschine mit dutzenden Menschen an Bord abzuschießen, wenn ein Terrorist droht, das Flugzeug in ein Stadion mit 70.000 Menschen zu lenken? Wir sitzen in einem Gerichtssaal. Als Laienrichter.
Die Staatsanwältin stellt kluge Fragen.
Wäre es noch möglich gewesen, das Stadion zu räumen?
Wäre es möglich gewesen, dass Passagiere den Terroristen in der knappen Zeit überwältigen?
Wäre es zu einem Abschuss gekommen, wenn Ehemann und Kind der Militärpilotin im Flugzeug gesessen wären?
War es gerechtfertigt, die Maschine gegen einen Befehl und gegen das Gesetz zu eliminieren?
Oder an einem anderen Beispiel dargestellt: Wäre es legitim, einen dicken Mann auf Schienen zu stoßen, damit ein fremdgeleiteter Waggon eingebremst wird, um nicht ins Tal zu rasen und dadurch eine Vielzahl von Menschen zu gefährden?
All diese Fragen richten sich an eine gut beleumundete, bestens ausgebildete Fliegeroffizierin, die den roten Kopf gedrückt hat. Ja, sie würde es in der gleichen Situation wieder so machen, sagt sie. Also eine Unbelehrbare? Kein Gesetz könne sie zwingen, nicht das zu tun, wofür sie geschult wurde. Es sei eine Gewissensfrage, welche Entscheidung sie als Führerin einer Flugrotte in Sekundenschnelle trifft, unabhängig davon, welche Konsequenzen das zur Folge hat.
In dem Verfahren, wo wir - das Publikum - als Laienrichter agieren, treten als Zeugen eine stramme Befehlsempfängerin und die Angehörige eines Flugopfers auf.
In der Pause sind die Besucher von „Terror“ aufgerufen, ein Urteil zu fällen. Mehr als die Hälfte entscheidet für „nicht schuldig“. Das war auch mein Urteil, denn so oder so wären die Passagiere zu Tode gekommen. Es ging nur um den Zeitpunkt - ein paar Minuten.
Mich beschäftigt die Frage auch heute noch. War es zum Beispiel richtig, dass russische Elitesoldaten zivile Opfer in Kauf nahmen, um einen Kinosaal von Tschetschenischen Terroristen zu säubern. Das Abwägen – ja moralisch zwingend - ohne Toleranz zuzuschlagen oder das Leben der Geiseln zu schützen, ist eine Frage der Ethik und des Wertesystems. Wenn auch der heilige Augustinus meint: „Wie sollen jene frei sein von Sünde, die sich mit Blute eines Menschen befleckt haben“, wird es Situationen geben, wo man abwägen muss, was das kleinere Übel ist. Schrecklich, aber notwendig.
In Ferdinand von Schirachs „Terror“ spielen unter der Regie von Julian Pölsler Julia Stemberger als emotionslose Richterin, Pauline Knof als Angeklagte, Martina Stilp-Scheifinger als eine mit wenig Empathie ausgestattete Verteidigerin und Susa Meyer als nachdenkliche Staatanwältin. In weiteren Rollen: Alexandra Krismer, Silvia Meisterle und Gioia Osthoff. Das Frauen-Ensemble spielt mit großer Ernsthaftigkeit und schauspielerischer Finesse.
Bitte hingehen und nachdenken - wir sind auf uns alleine gestellt, ob hier oder global.
Next „Terror“ am 6.2., die Vorstellungen im Jänner sind ausverkauft.
Infos und Tickets: www.josefstadt.org.
Reinhard Hübl
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