Kommentar
Stillstand

Christian Marold
RZ-Chefredakteur | Foto: RZ

In manchen Bereichen des öffentlichen Lebens ist es derzeit geradezu gespenstisch. Leere Straßen, geschlossene Geschäfte und wenn man auf andere Menschen trifft, dann schaut man vorwurfsvoll sein Gegenüber an, erntet aber zugleich die dieselben Blicke.

Ja, wir schaffen das alle und ja, wir überstehen gemeinsam diese schwere Krise. Es bleibt uns nun ehrlich gesagt auch nichts anderes übrig. Der Sog der Unsicherheit und das Bedürfnis nach Sicherheit hinterlässt aber jetzt schon tiefe Spuren.

Ja, wir sitzen alle im gleichen Boot. Die Corona-Sturmfront hat uns mit Vorläufern bereits erreicht. Wie stark der Sturm wird, können selbst erfahrene Nautiker noch nicht vorhersagen. Das Boot ist voll, sehr voll. Nur hat dieses Boot unterschiedliche Klassen. Es gibt die Holzklasse, in der die Menschen arbeiten müssen, eine kleine Koje haben und nebenher noch mit ihrer Arbeit ihre Familien ernähren müssen. Für die ist die Krise erst dann spürbar, wenn gewisse Dienstleistungen nicht mehr gebraucht werden. Zurzeit sind noch sehr viele in der Holzklasse, die täglich dafür sorgen, dass es den anderen Klassen auf dem Boot oder Schiff gut geht.

In der Mittelklasse finden wir Menschen, denen es finanziell besser geht. Ihre sozialen Kontakte sind gefestigt und der Sprung zur nächsthöheren Klasse war vor der Sturmfront nicht so groß wie der Schritt zurück zur Holzklasse. Derzeit sind es noch kleinere Einschränkungen, die zwar nerven, im Prinzip überschaubar sind. Alltägliche Aktivitäten wie Sportmöglichkeiten auf dem Deck oder die Kinderanimationen sind aufgrund des Sturms bis auf Weiteres abgesagt worden. Das ist sehr schade, aber wie gesagt, verkraftbar. So fallen Animations- und Informationsabende, die von einem Teil der Mittelklasse organisiert werden, erst einmal weg. Das bedeutet, die Arbeit ruht und je länger die Sturmfront anhält, umso mehr machen sich alle in der Mittelklasse Gedanken darüber, wie lange sie sich das alles noch leisten können.

Die sogenannte Luxusklasse ist gut abgesichert. Sie hat zwar in vielen Bereichen des Schiffs die Verantwortung und muss auch vieles koordinieren, aber die meisten sind nach wie vor beim traditionellen „Captainsdinner“ eingeladen und bekommen von ihm Informationen, die die anderen Klassen gar nicht, sehr spät oder nie erhalten werden.

Für die Luxusklasse ist klar: Sollte der Sturm noch schlimmer werden und das Schiff droht zu kentern, hat sie, die Luxusklasse, ein Rettungsboot. Soll heißen, die Wahrscheinlichkeit den Sturm halbwegs unbeschadet zu überstehen, zu überleben, wird für sie recht groß sein.

Was passiert aber mit dem Schiff, wenn die Hälfte der Menschen an Board nicht mehr für den reibungslosen Ablauf und der sicheren Fahrt auf dem Wasser zur Verfügung stehen? Wissen doch die wenigsten in der Luxus- beziehungsweise Mittelklasse, wie man den Maschinenraum bedient, in der Kombüse banal für das tägliche Überleben sorgt.

Einer der größten Gefahren auf dem Schiff derzeit: die Ruhe vor dem Sturm zu unterschätzen. Viel zu früh wieder an Deck gehen, Sport betreiben und so weiter. Reicht doch eine starke Böe der Corona-Sturmfront, um von Deck gerissen zu werden. Immer mit der Gefahr, auch andere mitzureißen.
Wir sitzen alle im selben Boot. Wir alle müssen mit der derzeitigen Krise umgehen. Aber so unterschiedlich jeder von uns ist, so verschieden sind auch unsere Ängste und Sorgen. Wird es nach der Sturmfront vielleicht nur noch eine Klasse geben? Der solidarische Grundgedanke des Miteinanders im Moment lässt darauf hoffen. Die Box der wirtschaftlichen Pandora voll von Gier und Profit zeigt uns aber, dass ein gesellschaftliches Kollektiv - wenn überhaupt - nur auf bestimmte Zeit gut gehen kann.

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