Hauptbahnhof: Raum der Stille
Rund um die Uhr tobt am Wiener Hauptbahnhof das Leben. Nur zu Mittag wird es etwas ruhiger.
FAVORITEN. Am Wiener Hauptbahnhof steht die Zeit nie still: Als einziger Bahnhof Wiens ist er 24/7 geöffnet. Menschen, die ihren Einkauf in den zahlreichen Geschäften erledigen, Reisende, die Beschäftigten am Bahnhof - unterschiedlicher als am Bahnhof können die Menschen kaum sein. Aber alle haben eines gemeinsam: Sie haben es eilig.
Die einzige Tageszeit, zu der es etwas ruhiger wird am Wiener Hauptbahnhof, ist die Mittagszeit. Dann reduziert sich das allgemeine Gehtempo und auch der Lärmpegel sinkt. Der Straßenkehrer steht neben seinem Koloniakübel und raucht. In einer Ecke stehen einige Buschauffeure der Wiener Linien mit Wurstsemmeln in der Hand. Die Verkäuferinnen in der Bäckereien packen zwar die Waren immer noch mit atemberaubender Geschwindigkeit in die Papiersackerln ein, nehmen sich aber zwischen auf-die-Budel-Legen des Sackerls und Bezahlen Zeit für ein paar freundliche Worte mit der Kundschaft. In der Mitte der Halle hat ein Rollstuhlfahrer sein Gefährt angehalten und schaut ins Leere. Plötzlich hastet eine Frau mit ostasiatischen Gesichtszügen vorbei, einen Reisetrolley hinter sich her ziehend. Ihre Eile konterkariert die allgemeine Mittagsruhe und macht sie so noch augenfälliger. Selbst der Markuslöwe, normalerweise ein Fels in der Brandung des allgemeinen Zeitwettbewerbs, macht den Eindruck, als ob er sich nach erfolgreicher Jagd gerade zur Siesta begeben hätte. Die afrikanische Savanne mitten am Hauptbahnhof.
Raum der Stille
Im Untergeschoß, in der Nähe zum Hauptquartier des Reinigungspersonals und den Toiletten, liegt der Raum der Stille - ein von der Katholischen Kirche eingerichteter Gebetsraum. An der Tür klebt ein Hinweis auf die regelmäßigen Taizé-Gebete. Drinnen stehen Sessel im Halbkreis, vorn steht eine Ikone auf einem Podest, neben der das ewige Licht brennt. Norbert Klein, der sich im Raum der Stille um die Besucher kümmert, erklärt, dass "unsere Einrichtung zum Zweck der Möglichkeit zur Besinnung eingerichtet worden und grundsätzlich für alle offen ist, also auch für nicht-christliche Religionen". Wie zur Bestätigung öffnet sich in diesem Moment die Tür, und ein Moslem tritt ein - erkennbar an der Takke, die er sich gerade zur Ausübung seines Mittagsgebets aufsetzt. Mit selbstverständlicher Geste reicht ihm Norbert Klein einen für diesen Zweck bereitliegenden Gebetsteppich, den der Moslem mit einem freundlichen Nicken an sich nimmt und sich in den hinteren Teil des Raums der Stille zurückzieht.
Dankbar für die willkommene Gelegenheit zur inneren Einkehr kehrt man beim Verlassen des Gebetsraums wieder zurück in die Betriebsamkeit des Wiener Hauptbahnhofs, die inzwischen wieder spürbar hektischer geworden ist.
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