Hausverstand - Denkzettel
Hausverstand
oder: wie man zur Mehrheit wird
eine Betrachtung von G.O.Gschwandler
Man hat`s nicht leicht! Wofür soll man sich entscheiden? Da machen es die anderen vor und man selbst? Es wäre ja leicht. Sich hinstellen und und das für gut befinden, was andere für das grosse Böse halten. Oder eben umgekehrt. Egal wie man es dreht und wendet, am Ende hat man die anderen gegen sich. So oder so. Wobei man dazu sagen muss, dass man ja das Ende nicht kennt! Wie sich entscheiden, wenn das Ende noch offen ist? Natürlich könnte man etwas hervorkramen. Etwas das man dort, ganz unten in seiner Lebenskiste weiss. Etwas das man dort, vor vielleicht gar nicht allzu langer Zeit vergraben hat, in der Hoffnung somit nie wieder wirklich Verantwortung übernehmen zu müssen.
Die Rede ist vom Hausverstand. Den kennen manche noch von früher. Das war dieses Ding, das man da mehr in Bauch und Herz trug als im Hirn. Das war dieses Organ, das einem sagte ob eine Sache gut ausgehen würde oder nicht, ob man die Finger davon lassen sollte, oder aber zugreifen und siegen und das Erreichte dann geniessen. Der Hausverstand. Seit ihn ein Konzern unter Vertrag hat, ist er scheinbar erreichbar auch für den Normalbürger geworden.
Oder, besser noch, seit er uns täglich via Produktinformationssendung ins Wohnzimmer blickt, haben wir auf den eigenen Hausverstand, den, welchen wir eingemottet haben, vergessen. Es war so angenehm, so bequem und ohne grossen Aufwand, weil der Hausverstand, der aus dem Fernsehen, mit fluffigem Rollkragenpulli und der sanften Stimme, uns sagte was gut ist, bevor wir überhaupt noch nach einer Antwort suchten! Er hat für uns gewählt! Und wir, später dann im Laden, folgten dieser Wahl, immer noch im schönen Glauben, selbst etwas entschieden zu haben. Was waren das für Zeiten! Ungetrübte Freude und Genuss und niemand der bedrohlich nahe der Grenze war und Einlass wollte.
Damals war die Zeit noch gut und schön und das Leben milde zu uns und die Angst nur eine Idee, wie aus einem schlechten Film den man schon wieder vergisst. Dass der Herr Hausverstand sich nur um Lebensmittel, um Toilettenpapier, um Milch und Eier, um Haarshampoo und Rasierklingen gekümmert hat, das war uns einerlei. Denn unsere Welt war ja auch nur so gross wie sein Angebot! Von einem Regal zum nächsten hat sie gereicht, unsere kleine, tapfere Welt und gedacht haben wir von der Wand bis zur Tapete, weiter nicht. Aber es war egal, weil es tolle Sammelgläser für Treuepunkte gab, und Aktionen für Freunde und Belohnungen, Ganze Himmel voll!
Hat man nicht einen Bogen um die Wahrheiten gemacht? Hat man sich nicht abgewandt von der Welt und sich dem zugewandt, was angenehm und schön war? Man könnte meinen dass es so war. Ist doch auch natürlich! Ist doch ganz in Ordnung! Ist doch nur normal! Was soll man denn schon tun, können ohnehin nicht, oder? Schon wieder flüstert er. Über die linke Schulter gebeugt raunt er uns zu, dass man doch alles getan habe was einem möglich gewesen war! Man hat doch die biologisch abbaubare Tüte genommen und alles das aus Bodenhaltung war sowieso! Wie kann man da mehr verlangen?
Dennoch. Aktuell bricht die Welt ein. Die Mauern schwanken, die Regale erzittern, die ersten Gläser stürzen und zersplittern, das Drinnen wird zum Draussen! Grenzverlust, Kontrollverlust, Machtverlust! Und in allem diese seltsame, unnatürliche Art von Stille, die entsteht wenn man unterdrückt was man eigentlich sagen will. Wo ist er jetzt der Hausverstand? Warum flüstert er uns nichts mehr ins Ohr, nun da wir dringend seine Meinung bräuchten oder zumindest eine Empfehlung, weil wir uns ja entscheiden müssen! Wo ist er jetzt, da wir zwischen nicht hinsehen wollen und doch wahrnehmen müssen uns verbiegen und nach der guten alten Zeit schielen, in der das „nimm drei zahl zwei Prinzip“ Gesetz und Hoffnung war!? Sagt er nichts mehr, weil es seinen Horizont aus Fressalien und Putzmitteln übersteigt? Schweigt er gar, weil das nichts mehr mit Sonderangebot zu tun hat? Ist es nun geschehen? Sind wir jetzt, heute, wieder ganz auf unsere eigene Wahrnehmung angewiesen?
Nur Mut! Blicken wir es wie es ist: Man hat uns jämmerlich im Stich gelassen! Der Hausverstand, der mit dem Rollkragenpulli und der sanften Stimme war eine grosse Lüge und hat nur innerhalb seiner eigenen Gesetze und Realitäten funktioniert! Er hat sich uns nicht als das vorgestellt, was er ist, ein schöner Schein, ein falscher Freund, ein Lügenmaul das uns nur die Börse leeren und uns mit bunter Kundenkarte an sich binden will! Dafür darf man ihm gram sein und sich abwenden! Auch den Pulli, den man ohnehin nie wirklich mochte, darf man ihm vom zitternden Leib reissen und erkennen dass da nur ein jämmerliches, dürres Männchen bleibt, das sich hinter Sonderangeboten versteckt. Er hat keine Hoden dieser Hausverstand! Er ist so blutleer wie ein Glas Essiggurken! Er war und ist kaum wirklicher, wie der Preis auf dem Schild der sich stündlich ändern kann und wird! Er ist ein Nichts, eine Fiktion, eine beige Lüge in Cordhosen mit unmöglicher Frisur! Er ist ein Niemand, so wie man selbst.
So ernüchtert darf man sich nun, 2015 wieder auf die Suche begeben, im eigenen Innen diesmal und den eigenen Hausverstand, ja den gibt es wirklich und wahrhaftig, wieder ans Licht bringen! Vorsichtig muss man ihn vom Staub befreien, ihn langsam wieder beweglich machen und die Linsen durch die er auf die Welt blickt sorgsam reinigen. Dann kann man ihn testen. An dem einen oder anderen Bild, an dem was uns die Medien als Wahrheit vormachen, oder auch an dem, was unser direktes Gegenüber, an papagaienhafter Wiedergabe mit sich führt. Man bekommt rasch ein Gefühl dafür, wie er wieder zu greifen beginn! Er schärft sich mit jedem Versuch den man wagt! Sein kleinen Zähnchen sind wie die des gefrässigen Regenwaldfisches. Er lernt schnell. Er beisst sich fest und frisst sich seinen Weg durch alle Lügenhäute bis hin zur Wahrheit! Er kann nicht nur, nein er muss! Das ist seine Natur! Und seine Gefrässigkeit ist es, was ihn auch am Leben hält, was ihn alsbald zu vielen macht, einer Überzahl, Legion! Ja, auch fortpflanzen kann er sich! Oh, wie anders er doch ist gemessen an seinem säuselnden Vorgänger! Wie radikal ehrlich und ohne jede Umschweife!
Aber Vorsicht! Das ist nicht angenehm und so ganz anders im Gefühl als der Andere! Dieser, der echte Hausverstand, der will es uns nicht lauschig machen! Der zeigt uns Wahrheiten, die unangenehm erkennen lassen, wie weit oder nahe etwas ist! Er führt uns aus dem Kaninchenbau in die Welt und macht uns aufmerksam auf das was ist! Und da ist vieles, das nicht mehr gut werden kann, vieles das zerschlagen im Staub liegt und nicht mehr zusammen finden wird! Er zwingt uns den Blick, mit grausamer Ehrlichkeit in eine Welt, die maßlos in allem geworden ist, in der Sattheit wie im Hunger, auch im Krieg. Er zeigt uns eine Welt, die so ist, weil wir alle, selbst jene die uns führen, einem gelogenen Hausverstand vertraut haben, der sich nun davonschleicht weil er versagt hat. Die Kleider in Fetzen, des Glanzes beraubt, gedemütigt und entlarvt!
So stehen wir, gesenkten Hauptes, verlegen und ertappt und kramen in unseren Leben, suchen nach dem richtigen Blick und dann, nach dem rechten Wort für das was wir sehen müssen. Das erste das wir erkennen, wenn wir aufrichtig zu sein wagen, das ist die Lüge, der wir uns ergeben haben! Wir erkennen dass der Hausverstand, der sich da so freundlich und mild, all die Jahre an uns gelehnt hat ein Schuft war, dem wir uns willig ergeben haben. Das macht die einen traurig, die anderen wütend. Die Trauernden finden sich zusammen und schwiegen sich in Grund und Boden. Sie schämen sich, häufen die Scham wie Grabhügel über sich und werden vergessen. Die Wütenden aber ziehen gegen die Konzerne. Sie sind sich ihrer Masse bewusst. Sie werfen den Mächtigen alles entgegen was sie noch haben. Viel ist es nicht. Meist bleibt nur Verachtung und eine stumpfe Wut die aber nicht schneidet. So entziehen sie der Macht ihre Grundlage indem sie sich verweigern, sich nicht mehr locken lassen und sich den Geist frei halten.
Ich versuche es auch. Wirklich. Aber es ist immer noch im Gefühl, dass man die Hand die einen füttert nicht beisst. Noch ist die Erinnerung stark, die Erinnerung daran, dass eben die uns satt machten, jene sind die man nun zu bekämpfen versucht. Das dämpft die Wut. Das hält zurück. Das mildert. Das macht es manchmal auch schwer.
Aber nun ist da ein neuer Ratgeber zur Seite. Er beugt sich zu mir, fasst mich an den Schultern, blickt mir fest in die Augen und herrscht mich an: „Vergiss nie, dass du die Mehrheit bist!“
Also los. Ich und mein Hausverstand werden es packen. Sein Lächeln stimmt mich heiter. Seine Zuversicht ahnt den Sieg!
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