Ein Eintrag ins Glücklich-sein-Tagebuch
Seit Neuestem führe ich ein Tagebuch des Glücklichseins. Da trage ich mir z.B. ein, wenn mein Herzblatt gesund wieder aus Polen zurückkehrt. Aber vorgestern war ein Tag, der von hinten und vorne besch……….. war. Also habe ich keinen Eintrag gemacht. Jüngst hatte ich endlich Aussicht auf ein Glückserlebnis. Ich fahre also mit einer Überdosis guter Stimmung nach Grafenegg. Wobei die Auswahl der Begleitung schwierig war. Ich habe drei Stammbegleiterinnen und einen Ex-Sänger, der zum Zahnarzt mutierte. Nein, er singt nicht, wenn er meine Zähne behandelt, obwohl das auch kein Problem wäre. Gewöhnlich ist auf ihn Verlass, aber diesmal wollte er gar nicht ins Weinviertel, weil er für seine Kinder Fronarbeit (Wohnung ausmalen, Kisten schleppen, etc.) leisten musste, und die Ordi brauchte auch eine Fitness-Kur. Also die Frauen. Die eine wollte nicht („Bei Jugendorchestern halte ich mich an die Junge Philharmonie Wien“), die zweite ist irgendwo bei einem anderen Festival und die dritte wollte zuerst auch nicht, besann sich später aber doch, dem „European Union Youth Orchestera“ ihre Aufwartung zu machen. Danach brach eine Welle der Entzückung auf mich nieder. „Es war so toll! Danke, dass du mich mitgenommen hast.“ Huldvoll nahm ich die verklärten Worte entgegen, nicht ohne bissig zu sein. Grafenegg ist allemal besser, als sich mit dem Rest der Verwandtschaft zu treffen.
Sie hat Recht: In dem in London angesiedelten Orchester (Patronanz: Europäische Kommission) spielen keine Lehrlinge, sondern Vollblutmusiker aus aller Herren Länder. Dirigent ist Vasily Petrenko. Der Russe zählt so gar nicht zu den Freunden seines Staatschefs. Musik ist Verbindung von Rassen, Nationalitäten und Lebenskreisen. Der von Anna Netrebko umschwärmte, unberechenbare Putin sollte sich das von ihr erklären lassen. Aufgepasst, das könnte schon wieder ein Satz zum Unglücklichsein werden.
Composer in Residence 2014 ist Jörg Widmann. Von ihm ist das schwierig zu spielende Stück „Con brio“ Konzertouvertüre für Orchester nach Motiven von Ludwig van Beethoven. Anfangs schluderten die Geigen ein wenig, fanden sich aber bald zurecht. Nehmen wir es so, wie es ist: Aufwärmrunde für Gershwins „Rhapsody in Blue“. Von da an merkt man, was in dem Orchester steckt. Der Pianist Simon Trpčeski aus Mazedonien ist zwar kein Virtuose, aber ein exzellenter Barmusiker, was bei diesem Stück keine Beleidigung ist. Das merkt man vor allem bei seiner Zugabe: Take Five ist der Titel eines erfolgreichen Jazz-Musikstückes des Dave-Brubeck-Quartetts. Und er interpretiert es hochklassisch, unterstützt von Schlagzeug und Bass.
Ein nicht oft gespieltes Werk ist John Adams „The Chairman Dances“. Die Mädels und Jungs des Jugendorchesters sind jetzt warm gespielt, obwohl die Temperaturen im Wolkenturm alles andere als sommerlich sind. Präzise leitet Dirigent Petrenko das Werk. Es ist eine Bereicherung des zeitgenössischen Repertoires, wo vor allem die Schlagwerker gefordert sind. Auch wenn man erst nachlesen muss, was den Komponisten animiert hat, dieses Stück zu schreiben. Ist es doch ein beredtes Zeichen, dass auch Tondichtungen der Gegenwart einen fixen Platz im Konzertbetrieb haben sollten.
Den Abschluss macht ein Selbstläufer: Bernsteins konzertante Aufführung der Symphonischen Tänze aus dem Musical „West Side Story“. Die Singstimmen werden meisterlich von den Solisten des Orchesters ersetzt. Der bis dahin etwas steife Dirigent kommt so richtig in Schwung, die Musiker haben extreme Freude am Spiel. Vom Prologue bis zum Finale findet eine Bigband-Session vom Allerfeinsten statt. Lenny hätte das sicher gefallen. Das Publikum sieht es ebenso. Nach dem Schlussapplaus fallen sich der MusikerInnen in die Arme, küssen sich begeistert, die Aufführung gut über die Bühne gebracht zu haben. Eine herzliche Geste, die nachahmenswert ist. Man stelle sich das bei den Wiener Philharmonikern vor….
Next: London Symphony Orchestra mit Rudolf Buchbinder am 24.8.2014 um 19:30 im Wolkenturm.
Infos und Tickets: www.grafenegg.com
Reinhard Hübl
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