Kommentar
Wo sind die Grenzen?

Christian Marold
RZ-Chefredakteur | Foto: RZ

Sowohl die Medienmacher als auch die Konsumenten sind sich bei immer wiederkehrenden Umfragen zu den Inhalten von Nachrichten einig: Es gibt viel zu wenig gute Nachrichten. Das stimmt! Ausgewogen wäre besser, aber hier eine Balance zu finden, ist verdammt schwer. Gerade die letzten Berichte in den vergangenen Wochen über Gewaltausübung, Gewaltverbrechen und Gewaltverherrlichung zeigen das Ausmaß einer vielschichtigen Dimension, die uns womöglich gar nicht klar oder bewusst ist. Die Spitzen des berühmten Eisbergs in Form von Frauenmorden, Kindesmisshandlungen und Tierquälerei sind uns nur dann bekannt, wenn sie gemeldet werden.

Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) definiert Gewalt wie folgt: Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.

Wo genau sind aber nun die Grenzen beziehungsweise ab wann erfährt mein Gegenüber Formen von Gewalt? Schaut man sich die Fachliteratur an und hört sich die Meinungen vieler Experten an, dann ist die Schwelle von Gewaltausübung so schnell überschritten, dass die meisten von uns dies gar nicht wissen oder als Banalität abwiegeln würden. Laut werden, anschreien, inhaltlich verletzende Wörter benutzen oder einfach nur die Tür zuknallen. Wer hat sich nicht schon dabei ertappt? Übrigens, Sarkasmus gehört auch zu dieser Kategorie. Für die meisten von uns als „Scherzle oder Schmähle“ abgetan, kann dieser für das Gegenüber schon verletzend wirken. Gerade in der Erziehung von Kindern, lang geführte Beziehungen/Partnerschaften/Freundschaften oder als Besitzer von Haustieren sind uns die Schwellen der Gewaltausübung gar nicht bewusst, weil sie zu wenig bekannt sind oder nicht als Gewalt eingestuft werden.

Dabei wäre der Schritt der Reflexion ganz einfach: Wäre mein Tun und Handeln für mich selbst verletzend? Ähnlich dem Kant’schen kategorischen Imperativ sollten wir uns immer fragen, ob unsere Handlungen so ausgelegt sind, dass auch wir selbst damit leben können. Soll heißen: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Diese etwas abgeänderte und sprichwörtliche Version der goldenen Regel der praktischen Ethik ist in fast allen Weltreligionen zu finden.

Um es etwas überspitzt zu formulieren, man müsste jeden Misshandlungstäter bis hin zum Mörder fragen, ob er oder sie das gerne am eigenen Leibe erfahren möchte –Tod inklusive.

Viele Opfer können uns nicht mehr berichten, wie die Gewaltausübung stattgefunden hat, weil es schlicht zu spät ist. Weil vielleicht einmal zu viel weggeschaut wurde. Manche Opfer von Gewalt äußern sich erst Jahre später, weil sie es vorher nicht konnten. Und von vielen Opfern hören und werden wir nie etwas erfahren, weil die Schwelle von Gewalt immer niedriger wurde oder die subjektive Akzeptanz der Opfer von Gewalteinfluss immer größer wurde. Schlagen, Schreien, Hauen und Erniedrigen gehören zum „normalen Alltag“ dazu.

Darum ist es wichtig, dass wir nicht wegschauen, auch oder gerade wenn es Anzeichen gibt. Egal ob Erzieher, Lehrer, Familienmitglieder, Arbeitskollegen oder Nachbarn. Wir haben auch auf dieser Ebene eine gesellschaftliche Verantwortung. Jeder von uns!

In vielen Fällen hören wir von Angehörigen oder Freunden: Ja, das hat sich abgezeichnet. Wer das behauptet, hat weggesehen und die Verantwortung abgegeben. Wer mit diesem Gewissen leben kann, handelt nicht so, wie er selbst gerne behandelt werden möchte.

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