Sommerfrische und Gipfelwind im Sellraintal

Foto: privat
2Bilder

Univ.-Doz. Mag. Dr. Georg Jäger hat Geschichte und Geographie studiert und sich im Fach Geographie habilitiert. Er lehrt an der Universität Innsbruck und hat zahlreiche Publikationen mit geographisch-historischen und volkskundlichen Themen des Tiroler Raumes vorgelegt. Vor kurzem ist sein neues Buch erschienen, in dem er "Leben im alten Sellraintal" beleuchtet. Ein Lesevergnügen von der ersten bis zur letzten Seite, wovon es hier auch zehn Textauszüge gibt.

Der Kurzinhalt

Das Tiroler Sellraintal hat sich im Gegensatz zu den benachbarten Tälern (Stubai, Ötztal) bis heute ein von der bergbäuerlichen Kultur geprägtes Natur- und Landschaftsbild bewahrt. Es war aber schon früh ein beliebtes Ausflugs- und Reiseziel. Vor allem die „Lage nahe den Eisgebirgen“, wie Daniel von Mensi 1816 formulierte, beeindruckte die Besucher.
In diesem reich bebilderten Buch sind vielfältige Eindrücke gesammelt, die „Sommerfrischler“ und andere Besucher früherer Zeiten anlässlich ihres Aufenthalts im Sellraintal zu Papier brachten: Den Gipfelbesteigungen und Schitouren im Gebiet um die Dreitausender Fernerkogel und Hohe Villerspitze gilt dabei ein besonderes Augenmerk. Aber auch unterhaltsame Schilderungen von Kuraufenthalten in Bad Rothenbrunn, abenteuerliche Wanderungen, Begegnungen mit leutseligen Wirten und versierten Bergführern sind berücksichtigt. Die frühe Fremdenverkehrswerbung hob natürlich die „blendend reinen Betten“ im Tal an der Melach hervor, das durch seine Wäscherinnen berühmt war.
Georg Jäger hat aus vielen kleinen Anekdoten eine spannende, vergnügliche und kurzweilige Komposition über das Leben im „alten“ Sellraintal geschaffen.

Die Buchrückseite

Die „Tiroler Bauernzeitung“ vom 21. Juli 1921 (S. 7) schreibt ganz zutreffend über den im Sellraintal einsetzenden Tourismus zu Beginn der 1920er-Jahre: „Sellrain. Der Fremdenstrom ist heuer wohl furchtbar stark. Von allen Seiten kommen die Leute, Reichsdeutsche, Oesterreicher, Italiener und andere Nationen. Wohl auch kein Wunder, wenn man bedenkt, welch schönes Fleckchen Erde unser Tal ist. Die Gasthöfe sind überfüllt, die Preise dementsprechend hoch. Infolge der Ueberfüllung der Gasthöfe müssen zahlreiche Fremde auf Stroh und Heu schlafen, geben sich aber damit zufrieden und sind nur froh, überhaupt eine Liegestätte gefunden zu haben.“

Die sieben Kapitel

Schlucht-Wanderungen zwischen 1888 und 1892 – Reiseberichte zwischen 1815 und 1854 – Tiroler Sommerfrische: Einige Tage in Bad Rothenbrunn, 1857 – Reiseberichte zwischen 1859 und 1899 – Reiseberichte zwischen 1900 und 1914 – Zwei Tagebücher als Spiegelbilder des Alltagslebens, 1891–1925 – Gipfelbesteigungen und Schitouren zwischen 1869 und 1925

Textproben (Auswahl):

Textprobe 1:
Erinnerungen an den 80-jährigen Bergführer „Briener Mannele“ in Praxmar, 1897 (Hermann und Friedrich Handel-Mazzetti)

„Ihr ginget durch das Schönthal bei der Oberachsel vorüber nach Praxmar zurück, hattet auch einen sehr guten 80 Jahre alten Führer, das ‚Briener Mannele’, der sehr langsam und hübsch im Zickzack gieng. (Das ‚Briener Mannele’ war einmal – im Jahr 1884 – auf einer Jagd mit zwei Genossen nächst Gries von einer Lawine verschüttet worden. Er allein wurde nach drei Tagen lebend an das Tageslicht gebracht. ‚Wo ischt mei Büchsele?’ war seine erste Frage.) Auf dem Abstieg in’s Schönthal höret Ihr 3mal Murmelthiere pfeifen Fünf Schneehühner flogen über unsere Köpfe weg. Im Sattelloch pflückte Harry zwei Minatur-Rauten und ein Edelweiss.“ (Hermann und Friedrich Handel-Mazzetti, Tagebuch-Notizen vom 2. September 1897)

Textprobe 2:
Mit dem schwindligen Bergführer „Seppele“ aus Oberperfuss am Roßkogel, 1896 (Hermann und Friedrich Handel-Mazzetti)

„Am 4. und 5. August 1896 unternimmt Mama mit Euch einen Ausflug auf den 2643 m hohen Roßkogel, bei welchen Papa aber nicht mithält, weil die Besteigung dieses Berges Schwindelfreiheit erfordert, welche Papa aber nicht besitzt. Ihr übernachtet von 4ten auf den 5ten im Gasthause des Klotz zur Krone und tretet am 5ten früh begleitet von ‚Seppele‘, einen braven Mann und angeblich genauen Kenner des Berges den Marsch an. Bis zur Krimpenbach Alpe, wo eine Rast gemacht wurde, ging es großentheils durch schönen Wald, dann über zum Theile felsige Stellen sehr steil hinauf auf die Spitze. Aber wo war Seppele? Diesem war’s in den Schrofen zu schwindlig. Er war schon ziemlich weit unten ausgebogen, um Euch auf der anderen Seite zu erwarten. Die Aussicht von der Spitze bei klarem Wetter war sehr schön. Ihr trafet dortselbst mit den zwei jungen Baron Wörth, Felix und Hanns, die sehr kecke Bergsteiger sind, zusammen. Sie gingen dann mit Euch nach Sellrain hinunter. Noch ist zu erwähnen, daß Ihr beim Aufstiege mehrere Steinhühner sahet. ‚Seppele‘ war’s auch beim Abstiege zu schwindlig, weshalb Mama ihn aus Barmherzigkeit entließ. Von Rothenbrunn gieng es dann im Wagen nach Völs. Auf der Roßkogel Spitze waret Ihr um ½1 Uhr, und nach 1½ stündigem Aufenthalte auf derselben um ¼7 Uhr in Rothenbrunn eingetroffen. Gegangen seid Ihr 9½ Stunden.“

Textprobe 3:
Der geizige Bauer im Gleirsch und seine hungernde Frau, 1889 (von Franz Nibler)

„Im Gleirschthal sind nur zwei Ansiedelungen, die eine gehört dem Gleirscher Bauern; sein Vermögen wird auf 100.000 Gulden geschätzt; da ihm die Dienstboten zu theuer kommen, ‚die fresset’n mi arm’, sagt er, hat er seine Oekonomie verpachtet; er ist verheirathet, hat aber keine Kinder; seine Frau geht ihm zeitweise durch, weil sie bei ihm verhungern musste, so geizig ist dieser alpine Krösus. Also die Fama. Böse Zungen gibt’s doch überall.“ (Franz Nibler, Thalschaft Selrain, 1889)

Textprobe 4:
Durstige Kehlen in Gries im Sellrain bis zum Morgengrauen, 1889 (von Franz Nibler)

„Dorf Gries als Knotenpunkt des Thales bietet einen interessanten Sammelplatz der Sennen, Schafhirten, Wurzelklauber und Edelweißbrocker, lauter malerische Typen echter Urwüchsigkeit, die hier häufig zusammenfinden, um sich in unverfrorener Weise und ungestörter Eigenthümlichkeit durch Gespräche und Gesang zu unterhalten. Schnaps, Wein, Kaffee, Bier (und welches) trinkt der eine und bringt’s dem anderen zu, so dass jeder mit jedem Schluck ein anderes dieser Getränke zu sich nimmt, und so geht es stundenlang fort; jeder hat’s zwar ‚gnöthig’ (= eilig, hastig) und will rasch wieder thalauf oder thalab, oder schließlich bleiben alle sitzen und johlen, spucken und rülpsen sich bis zum grauenden Morgen.“ (Franz Nibler, Thalschaft Selrain, 1889)

Textprobe 5:
Deftige Küche in Gries im Sellrain mit Kirschensuppe als Nachspeise, 1889 (von Franz Nibler)

„Die wackeren Thalbewohner sind gastronomisch noch auf einer sehr primitiven Stufe, nicht in bezug auf das, was sie essen, sondern wie sie essen. Ein Sonntagsmittagsmahl meines Herbergsvaters, eines wohlsituierten Gastwirthes und Oekonomen in Gries, brachte Folgendes hintereinander auf den Tisch: 1. Gang: grüner Salat in Essig und Oel, 2. Gang: gestöckelte Milch, 3. Gang: fett geröstete Kartoffeln, 4. Gang: Knödl in saurer Sauce, 5. Gang: Kirschensuppe. Und dazu kreiste beständig der Wasserkrug in der Runde, dem wie den Speisen eifrig zugesprochen wurde und alle, Eltern, Kind und Kegel blieben gesund.“ (Franz Nibler, Thalschaft Selrain, 1889)

Textprobe 6:
Die Sommerfrische Praxmar mit dem „Café Fernerkogel“, 1882 (Der Bote für Tirol)

„Das Alpengasthof des Johann Schöpf tritt uns hier entgegen. Wir haben es mit einer von Innsbruckern sehr besuchten Sommerfrische zu thun. Zwei Häuser dienen zur Aufnahme der Ankommenden. Das eine enthält die Gaststube, das andere „Kaffee Fernerkogel“ scherzweise überschrieben, die Lagerstätten. Fragen wir nach der Küche, so offeriert man uns Schöpsbraten und Mehlspeisen, von Getränken finden sich Kaffee, Wein, Branntwein. Zum Nächtigen dienen niedere mehrbettige Holzkammern. – Comfort in dieser Richtung gibt es nicht.“ (Der Bote für Tirol, 68. Jg., Nr. 162, S. 137: Extra-Beilage vom 18. Juli 1882)

Textprobe 7:
Die kräftigen Sellrainer Stadtwäscherinnen, 1857 (von Hermann Dreyer)

„Weben, Sticken und Spinnen sind neben Ackerbau und Viehzucht nicht die einzigen Erwerbsquellen des Sellrain. Sellrain ist die Bleiche und Waschanstalt Innsbrucks. Die Frauen und Mädchen des Dorfes sind geborene Wäscherinnen und rechtfertigen vollkommen das Vertrauen, welches die Innsbrucker Hausmütter ihnen schenkten, wenn sie alle ein, zwei Wochen ihre eigene und ihrer Männer und Kinder Leibwäsche senden. Neben einer kleinen Kapelle führt ein Steg über die Melach. Ich überschreite ihn, statte in einer der Waschhütten einen Besuch ab und plaudere ein Weilchen mit den Wäscherinnen, kräftigen, gedrungenen Gestalten, in hoch aufgeschürzten wollenen Röcken, das Gesicht geröthet von der schweren Arbeit und dem Feuer, an welchem das Wasser heiß gemacht wurde.“ (Hermann Dreyer, Tiroler Sommerfrische: Einige Tage in Bad Rothenbrunn, 1857)

Textprobe 8:
Die Kegelbahn der Einheimischen in Rothenbrunn, 1857 (von Hermann Dreyer)

„Auf den Holzbänken neben der Kegelbahn sahen mehrere Sommerfrischler, Herren und Damen, sechs Buben zu, von denen der größte – er hatte das Engelsgesicht, welches zum Fenster hineingeguckt hatte – dreizehn Jahre zählen mochte, und die mit großem Eifer dem Kegelschieben oblagen; eine Beschäftigung, welche besonders von Knaben gepflegt wird. Nicht allein in der Nähe der Schenken, sondern auch neben den vielen kleinen Bauernhäusern finden sich kleine Kegelbahnen, wo sich die Knaben vergnügen, wenn sie nicht bei dem Herrn Lehrer ernstere Pflichten genügen müssen. Während das Bergsteigen schon in frühester Jugend den Beinen Mark und Kraft gibt, stärkt das Kegeln die Arme und bildet zum Bergsteigen die nothwendige Ergänzung.“ (Hermann Dreyer, Tiroler Sommerfrische: Einige Tage in Bad Rothenbrunn, 1857)

Textprobe 9:
König August von Sachsen hält sich in Lüsens auf, 1854 (von Alois Moriggl)

„Nachdem sich hier in Lüsens der hohe Reisende mutirt (= umgezogen, die Kleider gewechselt) hatte, begab sich Höchstderselbe in die Küche, setzte sich auf eine Bank, die auf dem Herde angebracht war, um sich am Feuer zu wärmen. Es war ziemlich kalt. Unterdessen wurde das Zimmer geheizt. Der Senner, ein echter Natursohn, schickte sich nun an, ein kräftiges Alpenmus zu kochen. Während er dasselbe kochte, stellte er an den König mehrere Fragen: ob Er auch Kühe habe, ob es in Sachsen auch Alpen gebe usw. Seine Majestät beantworteten diese naiven Fragen dem Naturmenschen, für den eine Welt ohne Kühe und Alpen keinen Reiz zu haben schien, mit gewohnter Herablassung. Nach eingenommenem Nachtmahle geruhten Seine Majestät sich in das dortige Fremdenbuch einzuzeichnen und sich sodann zur Ruhe zu begeben. Um halb 5 Uhr las ich in der freundlichen Hauskapelle die hl. Messe. Um halb 6 Uhr wurde gemeinschaftlich das Frühstück eingenommen; denn schon um 6 Uhr sollte der Rückweg angetreten werden. Während der Nacht hatte es furchtbar geregnet und bis in die Nähe des Alpenhauses herabgeschneit. Jedoch das Wetter heiterte sich auf, die Wolken verschwanden und die Bergspitzen kamen nach und nach zum Vorschein.Von einem Fenster des Alpenhauses aus fingen seine Majestät an zu zeichnen, um einen kurzen Umriß der herrlichen Ansicht, dessen Glanzpunkt der Ferner bildet, auf’s Papier zu bringen.“ (Alois Moriggl, Letzte Reise Seiner Majestät des Königs, 1854)

Textprobe 10:
Das Wäschebleichen in der „Nixen-Heimath“ Sellrain, 1837 (von Beda Weber)

„Zu den Erwerbsquellen des Thales gehören zuerst die allbekannten Leinwandbleichen und Waschhütten, wozu die Selrainer besondere Gelegenheit haben, und wodurch sie mit der ganzen Nachbarschaft in Verkehr kommen. Vom halben Innthale wird Leinwand zum bleichen, und viele Weisswäsche von Innsbruck dahin geschickt. Die Selrainer erscheinen selbst mit ihren kleinen, aber gewandten und gut gefütterten Pferden, und liefern die Stoffe zum bleichen und die Wäsche grösstentheils auf einspännigen Wagen ins Thal. Ungefähr 45 Haushaltungen geben sich damit ab. Der daraus fliessende Gewinn ist eben nicht gross. Theils kosten Pottasche, Holz, Seife und anderer Bedarf sehr viel, theils ist die Bleicharbeit sehr mühsam, mit Gefahr des Diebstahles und der Beschädigung, und das Aus- und Einführen mit grossem Zeitverlust verbunden. Aber ein überraschender Anblick ist es für den Reisenden, die besetzten Bleichstätten zu schauen rings um Haus und Hof, Weiber und Kinder mit Spritzen beschäftiget, wie in der Nixen und Nymphen Heimath.“ (Beda Weber, Das Land Tirol. Ein Handbuch für Reisende, 1837)

Georg Jäger (Hrsg.): Sommerfrische und Gipfelwind. Von Rothenbrunn zum Fernerkogel. Reisen und Wanderungen im Sellraintal 1815–1925. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner. 496 Seiten, zahlreiche s/w-Abbildungen, fest gebunden. ISBN 978-3-7030-0880-1. Preis: Euro 39,00.

Foto: privat
Foto: privat
Du möchtest regelmäßig Infos über das, was in deiner Region passiert?

Dann melde dich für den MeinBezirk.at-Newsletter an

Gleich anmelden

Kommentare

?

Du möchtest kommentieren?

Du möchtest zur Diskussion beitragen? Melde Dich an, um Kommentare zu verfassen.

Folge uns auf:

Du möchtest selbst beitragen?

Melde dich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.