Freie Platzwahl - Denktzettel
Freie Platzwahl
oder
am Ende macht es nicht viel Sinn
Eine Betrachtung von G. O. Gschwandler
Jetzt sind wir aber erschrocken! Das war ein ordentlicher Ruck der da durch das Schiff gefahren ist, durch das sinkende! Da hat man nicht damit gerechnet! Bei aller Vorhersage nicht! Wobei, die Kollision mit dem Eisberg, die hätte Augen und Ohren öffnen, das Herz frei rütteln, die Gedanken zur Tat werden lassen müssen - hat sie aber nicht. Und jetzt? Jetzt haben wir den Salat, immerhin ungespritzt und bio, aber immer noch nagt es an uns, dass da irgend etwas faul ist. Nicht im Salat wohlgemerkt, nein! Der Salat ist perfekt! Aber da wo man sitzt, am grossen Tisch, der Stuhl selbst ist ja schon instabil! Das fällt allmählich auf! Jetzt geht es ja um die eigene Sache, die eigene Existenz! Da wird einem das Gemeinsame doch etwas zweitrangig. Am selben Tisch zu sitzen und satt zu werden, Bissen um Bissen, das mag ja angenehm und erstrebenswert sein. Aber wenn der Stuhl auf dem man, freiwillig muss man dazu sagen, Platz genommen hat, mit einem Mal seine Stabilität verliert und eindringendes Wasser, eiskalt die Zehen umspielt, da wird es knapp um die Gemütlichkeit! Mit beiden Beinen ist man genötigt auszugleichen, den Halt und die Haltung vor allem, nicht zu verlieren! Wann hat man sich eigentlich zu Tisch gesetzt? Meist ist es nicht erinnerbar. So bleibt die Frage nach dem „Wann“ akademisch. Bildungsunabhängig.
Dass da zu wenig Stühle sind, nun, das ist die Zeit die nunmal so ist, sagt man sich. Und es liegt natürlich und ausschliesslich an denen, die da zu spät kommen. Die Zahl der Stühle war doch immer schon die selbe gewesen, redet man sich ein! Sozialdarvinismus oder Resource nennt sich das. Und auf einer solchen sitzt man und will nicht weg von ihr, selbst wenn sie schwankt. Man bleibt, selbst wenn man sich mit Händen an Tisch und Stuhl krallen muss und einem die dritte Hand fehlt um weiter satt werden zu können. Dafür ist der Polster noch sitzwarm. Nicht aufgeben, den Tisch und den warmen Polster um keinen Preis verlassen! Es gäbe kein Zurück! Das hat man tradiert im Blut, wie einen Virus. Es ist die DNS die uns befiehlt (Ein Treppenwitz). Lüge: wir können nicht aus unserer Haut. Wahrheit: Der Tisch ist uns heilig weil er satt macht. Der ergatterte Stuhl ist die Ehre und die Tradition und die Sicherheit und das Amen, auch das Alpha und das Omega und überhaupt! Der Tisch und der Stuhl ist der Sinn, das Leben, aller Inhalt und die Sattheit bestätigt uns in unserem Glauben! Der Platz am Tisch ist Macht! Man liebt sich auf dem Tisch. Man zeugt sich weiter in die Welt auf ihm. Er ist uns zum Gral geworden, zur einzigen Wahrheit, zur Religion aller Religionen. Gott selbst ist aus diesem Tisch gemacht und seine Stühle sind unser Rückgrat! So etwas gibt man nicht auf! Selbst wenn das Schiff sinkt! Niemals!!
Seltsam. Dieser Kampf um die Kapitänswürde. Dieses elende, schmutzige Gerangel um die Führung eines sinkenden Kahns! Da wird gefeilscht was das Zeug noch hält. Aber auch am Tisch gibt es ein Regelwerk und die Wertung ist süss wie Honig. Man wirft sich in edle Roben oder aber, sei es aus passendem Protest oder nur aus purer Verlogenheit, man bindet sich nackt auf seinen Stuhl, dicht an die einem zugewiesene Fläche des Tisches wo Teller und Glas, alle Werkzeuge um sich zu mästen penibel angeordnet sind und auf üppige Menüs warten. Man gibt das Leiden vor, oder das Mitleid, weil die Portionen dann grösser ausfallen könnten! Nachschlag! Zuschlag! Mehr! Kein Gedanke daran, dass die Küche bereits geflutet ist, dass die meisten Köche im Eiswasser bereits ihr Leben gelassen haben, pflichttreu und aufrichtig dumm. Keine Idee davon, dass der eine oder andere von ihnen, das sinkende Schiff schon lange hinter sich gelassen hat! Lieber auf offener See treiben, mit der Hoffnung auf ein Eiland, auf tragfähigen Boden. Besser mit nichts am und im Leib, als angewiesen auf die Essensreste der besseren Gesellschaft sein und in einem grossen Brüllen untergehen! So mögen sie gedacht haben, die Geflohenen. Sakrileg! Egomanie! Asozial! Das denken die am Tisch gebliebenen, weil das Essen nicht kommt oder spärlicher wird. Weil die Portionen kleiner werden. Weil der Mangel als Nachtisch geplant ist. Weil das Brot aus Holzwolle sein wird und der Wein aus Dieselöl, das für die Maschine sinnlos geworden ist. Sie ahnen nichts von den überfluteten Lagerräumen. Sie wissen nichts von den Überlebensmitteln, die es lange schon nur mehr schwarz auf weiss in den Speisekarten gibt! Die Nahrung wird notgedrungen mit bunter Erinnerung gestreckt. Die quillt auf und macht das Jetzt ein wenig fülliger. Das beruhigt.
Von draussen drängen die Horden derer an den Tisch, die ganz ohne Schiff gekommen, deren Boote längst gesunken sind. Sie schwimmen an den flackernden Schiffsleichnam heran, dringen durch das Leck, das man nicht zu dichten vermochte, in ihn. Sie drängen, taub allen Warnungen gegenüber, an den Tisch, obwohl es an Stühlen mangelt! Sie wollen an die Tafel! Sie beanspruchen ihren Teil von dem das es nicht mehr gibt. Doch jene die sich an den Tischen, mit letzter Kraft und verbissenem Hass, an die Reste der versprochenen Hoffnungen klammern, sie wollen nicht einmal den Mangel teilen.
Oben, dort wo das Schiff noch dampfend in die Nacht atmet, dort kämpfen die Eliten. Sie ringen um die Kapitänsmütze, sie streben nach der Macht, angefeuert durch die, welche selbst einmal Kapitän gewesen und gescheitert sind. Man beruft sich auf einen Führer, auf jenen starken Mann der das Schiff einst gegen den Eisberg fuhr. Und selbst diese Wahrheit wird verfremdet, umgekehrt und gegen die Vernunft ins Gefecht geführt: Es war doch der Eisberg selbst! Er war es, so gemein verborgen in der Nacht und seine Masse getarnt im schwarzen Wasser! So falsch und verlogen und der Antichrist selbst! Man redet sich das Versagen schön und wirft die Schuld auf das Eis, das auch nur gefrorenes Wasser ist, das für die eigene Form nichts kann. So führt denn niemand das sinkende Schiff. Und fände man einen wahren Helden, selbst dieser könnte nichts tun, weil es zu spät ist. Dabei bräuchte es nur einen, einen Messias vielleicht, der strahlend und klar und reinen Herzens dazu aufruft ein Floss zu bauen um sich zu retten. Doch das Floss, das bräuchte Holz um zur rettenden Insel zu werden. Wie denen am Tisch sitzenden begreifbar machen, dass es den Tisch nötigt? Wie ihnen erklären, dass er nur das Leben retten kann, wenn er zunächst von den klammernden Händen befreit wird!? Wie, gegen alle Tradition argumentieren, dass der Tisch seine Form ändern muss, dass er zunächst Zerstörung und Wandlung durchlaufen muss um zum Floß zu werden? Und wie, das ist das schwerste, die Menschen von den Stühlen bringen?
So rennt man durch das Schiff. Betritt die Speisesäle, die Kabinen und Kajüten, meidet das steigende Wasser und ruft die Nachricht vom sinkenden Boot. Doch beinahe niemand hört. Und die wenigen die hören verstehen nicht recht und nehmen die Botschaft nur auf, um sie lauter als man selbst, aber allemal falsch weiter zu geben. Von Tisch zu Tisch geht der Ruf, die falsche Wahrheit: „Das Boot ist voll! Das Boot ist voll!“ Man möchte verzweifeln daran und brüllt zurück „Es ist nicht VOLL!!! ES SINKT!!!“
Am Ende macht es nicht viel Sinn - das muss man erkennen und verinnerlichen. Das dauert. Aber nach einer kurzen Zeit der Verzweiflung, macht man sich auf, etwas zu suchen das schwimmt, das einen sicher trägt, egal wohin, nur fort - und es muss kein Tisch sein!
Georg O. Gschwandler
Kommentare
Du möchtest kommentieren?
Du möchtest zur Diskussion beitragen? Melde Dich an, um Kommentare zu verfassen.