Lady und Lausbub

Donna Leon im WOCHE-Gespräch über Brunetti, ihre persönliche Revolution, die Kirche und die Mafia.

Ihre ganz persönliche 68er-Revolution hatte Donna Leon mit 60 Jahren: „Seit damals esse ich keinen Fisch und kein Fleisch mehr.“ Seit ihrem Sechziger sei die 66-Jährige „erwachsen“ und lehne auch bei Einladungen Fleisch und Fisch ab. Davor habe die Vegetarierin sehr wohl aus Höflichkeit auch Fisch und Fleisch gegessen … Wie so oft bei (echten) Persönlichkeiten, ist auch Bestsellerautorin Leon ein bescheidener, äußerst umgänglicher und vor allem humorvoller Mensch. In der persönlichen Begegnung wirkt sie wie eine Mixtur aus Lady und Lausbub.
„In Italien haben wir beides – die Kirche und die Mafia, und das ist mindestens eines zu viel“, sagt sie auf die Frage, warum Kirche eines der Themen im neuen Roman „Das Mädchen seiner Träume“ ist: „An der Kirche nörgle ich immer wieder gerne herum – aber diesmal geht es ja sogar um einen guten Priester“, fügt sie mit einem lausbübischen Grinsen an. „Ich kenne die Bibel, ich kenne alle Heiligen, aber für mich ist Kirche Mythologie“, erklärt sie ihre persönliche Einstellung.
Thema Nummer zwei im 17. Fall für Commissario Brunetti ist das Roma-Problem: „Das Haus von Freunden wurde von Zigeunern ausgeraubt. Ich sehe sie jeden Tag in der Stadt und wenn ich den Zug nach Norden nehme, sehe ich ihr Camp. Sie sind allgegenwärtig in Italien.“
„Ich weiß nie, wie’s ausgeht.“
Das Opfer (ein offenbar ertrunkenes Roma-Mädchen) wird in „Das Mädchen seiner Träume“ erst auf Seite 129 gefunden - warum so spät? „Ich plane solche Sachen nicht, sie passieren einfach.“ Überhaupt hat man beim Lesen das Gefühl, dass die Autorin Brunettis Gedanken und Sicht der Dinge, den Um- und Missständen in seiner Umwelt, noch größeren Raum gibt als bisher: „Es mag jetzt wie eine Lüge klingen, aber: Ich verbringe zwar ein Jahr mit dem Schreiben eines Buches, aber über solche Dinge denke ich nicht nach.“
Sie erklärt es mit einem Beispiel aus der Musik: „Wenn ich in die Oper gehe, höre und genieße ich eine Abfolge von Arien, wenn Alain Curtis (Anm.: Leons Freund und Leiter des von ihr geförderten Orchesters Complesso Barocco) in die Oper geht, hat er das Stück als Ganzes im Kopf und setzt eine Arie in Bezug auf eine in der gleichen Tonart in einem anderen Akt usw. Ich mache das mit meinen Büchern nicht, ich sehe sie nicht als großes Ganzes, sondern als eine Menge kleiner Szenen. Wenn ich mit einem Buch beginne, weiß ich, dass es, sagen wir, 60 Szenen haben wird. Wenn ich mit der ersten fertig bin, weiß ich, wie’s in der zweiten weitergeht, aber ich weiß nicht, was am Schluss sein wird.“
Der Kriminalroman ist für die Autorin übrigens – wie für viele ihrer Kollegen – „eine des besten Möglichkeiten“, die Welt von heute zu beschreiben. Daher läuft Brunetti auch nicht Gefahr, in Pension geschickt zu werden. Einzige Einschränkung: „Solange es mir Spaß macht. Denn wenn’s mir keinen Spaß macht, macht es auch den Lesern keinen Spaß.“
Christian Lehner