Elbphilharmonie
Zwei Totenmessen in Hamburg - eine Erfahrung
Den goldenen Saal im Musikverein kennt fast jeder, der schon einmal das Neujahrskonzert gesehen hat. Die Patina weist bereits Risse auf. Schlechte Sicht, vor allem im oberen Teil des Saales, ist evident. Das schmälert den Musikgenuss. Hoffnung bringt der neue Intendant, dass dieses Manko gelöst wird. Aber die Musik lässt das Sichtproblem auf wunderbare Weise vergessen. Im Rundbau der Elbphilharmonie sehen alle, was sich auf der Bühne ereignet. Natürlich kann man den Neubau nicht mit der gewachsenen Struktur des Wiener Kulturtempels vergleichen. Was man aber vergleichen kann ist, dass viele Konzerte zuerst in Hamburg gespielt werden und erst dann nach Wien kommen.
Die Nachricht kam überraschend. Kurz eine Woche vor dem Konzert kommt die Information, dass ich einen Platz in der Elbphilharmonie erhalte. Da fragt man nicht lange. Termine werden verschoben, das Herzblatt bleibt beim Hund. Flug buchen – die letzten zwei Plätze. Man sagt zu, obwohl man um halb fünf aufstehen muss, damit man um 11 Uhr in der Elbphilharmonie erscheint. Dort scheint sich ein neuer Grals-Ort der klassischen Musik zu entwickeln. Das Haus ist randvoll besetzt, als Kent Nagano das Podium betritt, um das 8. Philharmonische Konzert mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg zu leiten.
Es sind zwei Werke, die vom Abschied nehmen geprägt sind. Pierre Boulez‘ Rituel im memoriam Bruno Maderna. Der Komponist und Dirigent widmete seinem Freund diese Uraufführung. Ich kenne die grenzwärtigen Aufführungen des jungen Schlagwerkers Martin Grubinger. Nichts davon spürt man davon in der Elbphilharmonie. Es ist ein ganz anderer Zugang zu Schlagwerken. Für einen übernächtigen Journalisten ist schwer zu verstehen, was sich an Ungewöhnlichem im Orchestergraben ereignet. Es ist ein Klangerlebnis in atonalem Grundton. Streicher, Blech und Schlagwerk wechseln einander ab, und mal spielen sie gemeinsam. Man neigt fast zu glauben, an einer Probe teilzunehmen. Die Rhythmik ist eine zentrale Rolle, aber es ist schwierig, einen einheitlichen Duktus zu erkennen. Dennoch: Das Spiel zwischen den Instrumentengruppen ist so austariert, dass alle Protagonisten ihren Platz finden.
Beim zweiten Werk, Mozarts Requiem (Große Messe in d-moll), tue ich mir leichter. Sehr oft schon gehört, erlaube ich mir hier ein Urteil. Man spürt die Einheit zwischen Nagano und „seinem“ Orchester. Sein Dirigat beschränkt sich auf kleine Handzeichen, und die Musiker wissen diese zu deuten. Die SängerInnen - Lydia Teuscher und Marie-Sophie Pollak (beide Sopran) Julian Prégardien (Tenor) und Dominik Köninger (Bass) sind treue Wegbegleiter. Nagano braucht im Gegensatz von Teodor Currentzis, der die Solisten unter strenger Kontrolle hält, kaum Zeichensetzung, um Einheit zu gewährleisten. Das ChorWerk Ruhr gibt der unvollendeten Messe Mozarts einen professionellen Halt. Hamburg ist nicht Maß aller musikalischen Dinge, ist aber bereit, neue Wege zu gehen.
Dem Publikum hat es gefallen, und es spendet heftigen Applaus.
Reinhard Hübl
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